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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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Gut, dass du dich nach all den Jahren endlich von ihm trennen konntest.«
    Sie setzte sich im Bett auf und sah ihren Sohn aufmerksam an: »Du warst immer so ein lieber Junge.« Ihr Gesicht zerschmolz vor Liebe. »Mein Junge.«
    Er wandte den Blick ab und schaute nach draußen. Die schwache Sonne schien durch das erste grüne Laub der hohen Bäume. Es war ein stiller Frühlingstag und die Luft angenehm frisch. Jetzt würde es hoffentlich nicht mehr lange dauern, bis die Bäume vollständig grün waren. Er spürte das wärmende Sonnenlicht auf seinem Gesicht.
    Neulich hatte eine Pflegerin zu ihm gesagt: »Ich würde hin und wieder gern länger mit Ihrer Mutter reden. Wissen Sie, sie freut sich ja, wenn jemand nach ihrem Befinden fragt. Aber wenn ich anfange, ihr zuzuhören, schaffe ich mein Pensum nie. Wir haben ja nur sieben Minuten fürs Waschen und Anziehen pro Patient. Vielleicht können Sie sich vorstellen, wie frustrierend das ist. Eigentlich dürfte ich mich jetzt auch nicht mit Ihnen unterhalten, sonst komme ich nicht durch.« Die Pflegerin hatte sich einen Ruck gegeben und ihn direkt angesehen. »Das bleibt aber bitte unter uns. Ich bin froh, dass ich überhaupt Arbeit habe.«
    Er nickte. Genau deshalb brachte er ja immer frisches Obst, Gemüsesäfte und mindestens eine Stunde Zeit für seine Mutter mit. »Selbstverständlich.«
    Als die Pflegerin das Fenster wieder verriegelt hatte (»Damit sie uns nicht rausspringt.«), war er noch einmal zu seiner Mutter gegangen und hatte sie auf beide Wangen geküsst.
    Mittlerweile war sie eingenickt. Stumm saß er da und beobachtete sie. Er war machtlos gegen ihren Schmerz, der sie wie eine Krankheit von innen auffraß. Ihr Alter wurde ihm schlagartig bewusst, ihre dünne Haut, ihr grau gewordenes Haar und auch ihre verblichene Schönheit. Er fragte sich, wie er ihr all dieses Leid nur hatte zufügen können. Wie konnte ich dir das nur antun, Mama?
    Langsam schlug sie die Augen auf und sah ihn an: »Ich stelle mir vor, welch ein Leben du all die Jahre geführt hast. Das werde ich nie verstehen.«
    Er verstand es selbst nicht mehr. Die ganzen Jahre hatte er sich gedrückt, war auf den Gewässern und in fremden Ländern umhergezogen und allem aus dem Weg gegangen, was auch nur entfernt mit seinem toten Bruder zu tun hatte. Erst die Einlieferung seiner Mutter in die Psychiatrie hatte ihn zurück nach Berlin geholt. Und nun endlich befand er sich auf dem blutigen Pfad der Vergeltung.
    Er blickte nach draußen. Schnitt. Fabian stand ans Fenster gelehnt. Er war jetzt ein Teenager, fast schon ein junger Mann, siebzehn Jahre alt, schlank, attraktiv. In slow motion drehte er sich zu ihm um und sagte mit sanfter Stimme: »Unser Leben hätte anders verlaufen können.«
    »Stimmt«, sagte Mama vom Bett aus. »Aber es ist nicht anders verlaufen, mein Junge. Es ist, wie es ist.«
    »Du solltest die Sache abschließen«, sagte Fabian und schaute ihn an.
    »Ja«, antwortete er. Er erschrak, als er seine eigene Stimme hörte.
    »Warte nicht länger damit, sonst wird es zu kompliziert. Du hättest gar nicht so lange warten dürfen.«
    »Du hast recht.« Hatte er das wirklich laut gesagt, oder war die Antwort nur in seinem Kopf?
    »Pst«, sagte Mama leise, ihr Gesicht in Großaufnahme.
    »Du verteidigst ihn?«, fragte Fabian zögernd, die Kamera hatte dabei seine Augen im Fokus.
    »Nein. Ich verzeihe. Zumindest versuche ich das.« Erschöpft schloss sie wieder die Augen.
    Er ging ins Bad, das auch eine barrierefreie Dusche mit einem Plastikhocker in der Ecke unter den Wasserhähnen hatte, wo sich die Kranken hinsetzen konnten, während sie gewaschen wurden. Er nahm die Lotion seiner Mutter aus einem kleinen Regal über dem Waschbecken und cremte ihr damit Gesicht und Hände ein. Die Mutter ließ ihn machen. Sie war ganz ruhig. Es war ihm wichtig, dass sie sich nicht gehen ließ, dass sie schön blieb. Sie hatte so zarte Haut. Aus ihrer Nachttischschublade holte er ihr Parfümfläschchen und tupfte ihr ein paar Tropfen Maiglöckchenduft hinter jedes Ohr.
    Dann goss er Apfelsaft in ein Glas und wartete. Die Kamera glitt in einem eleganten Schwenk über Mamas Körper nach draußen in den Garten.
    Nach einer langen halben Stunde, die er still an ihrem Bett verbracht hatte, ging er leise davon.
    Die Tierfreundin hatte nach ihrer Mutter geschrien, als sie begriff, dass sie sterben würde. Nach ihrer Mutter – das war so schwer zu begreifen. Nein, er durfte jetzt nicht weiter darüber

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