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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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»Ich mag keinen Strohhalm.«
    »Es kommt noch schlimmer«, setzte Sandra nach. »Er verweigert sogar meinen guten Cremespinat, und Fisch existiert für ihn ausschließlich in Stäbchenform.«
    »Mama! Spinat schmeckt so eklig!«
    Paula genoss diese idyllische Familiensituation in vollen Zügen. Ihre Akten blieben ungelesen in der Tasche, die würde sie morgen weiterstudieren.
     

33
    A ls er das Haus mit seiner mit frischem Obst und Saft gefüllten Plastiktüte betrat, schlug ihm eine intensive Geruchsmischung aus Alter, Desinfektionsmitteln und Urin entgegen. Ockerfarbenes Linoleum und schmutzig gelbe Wände erstickten jedes Gefühl von Behaglichkeit im Keim. Eine Frau, die noch zu jung war, um hier zu leben, hastete über den Flur. Der Gang wurde nach etwa zwanzig Metern breiter und mündete in einen großen offenen Aufenthaltsraum. Auf Sesseln in verschiedenen Abnutzungsstadien saßen alte Frauen mit riesigen Ohren in verblichenen Kittelschürzen und Synthetikpullovern. Alle starrten ins Leere. Von den einzigen beiden Männern hielt der eine Händchen mit der Frau an seiner Seite. Speichelfäden hingen ihr aus dem Mund. Der andere Mann blickte stumm auf ein Würfelspiel vor sich auf dem Tisch, das niemand mit ihm spielte.
    Er konnte seine Mutter unter den Anwesenden nicht entdecken und ging in den zweiten Stock des rechten Seitentraktes mit den Einzelzimmern. Auch hier stieg ihm der Geruch von Krankheit und Putzmitteln in die Nase.
    Wo immer er hinsah, er wurde an Fabian erinnert. Selbst in dieser trostlosen Umgebung. Er fühlte seinen warmen Atem an seiner Wange, hörte Mamas laute Opernmusik, während sie die Spaghetti für das Abendessen kochte, und hatte seine eigenen Geschichten im Ohr, die dem Kleinen von Gespenstern und Spitzbuben erzählten.
    Die Briefe seines Vaters trafen jedes Jahr zu Weihnachten aus Neuseeland ein. Nach der Scheidung begann er sich irgendwann doch für seine beiden Söhne zu interessieren. Regelmäßig im Dezember meldete er sich mit einem langen Brief und Fotos von seiner neuen Existenz in der Fremde. Er selbst hatte sich nicht besonders für das Leben seines Vaters interessiert, aber die Mutter drängte die Söhne, jedes Jahr zu Weihnachten ein Bild zu malen oder einen Brief zu schreiben und in der Schreibtischschublade aufzubewahren. »Vielleicht kommt er ja doch noch zurück«, hatte sie gesagt. »Eines Tages steht er vor der Tür, und dann sieht er, dass ihr die ganze Zeit an ihn gedacht habt.« Aber sein Vater war nach nur fünf Jahren auf der neuseeländischen Farm seiner Schwester bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und er hatte den Inhalt der Schublade in den Müll geworfen.
    Alles vorbei und verschwunden. Wie auch sein Bruder.
    Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und öffnete entschlossen die Tür zu dem Zimmer seiner Mutter.
    Die Zimmer waren im ganzen Haus beinahe identisch. Jede Wohneinheit bestand aus einem etwa achtzehn Quadratmeter großen Raum mit einem Fenster und einer Tür, die in ein winziges, grau gefliestes Bad führte. Hellgelbe Wände, grauer Linoleumboden mit hellen Sprenkeln. Eine Grünpflanze auf dem Fensterbrett. Ein billiger Druck mit Sonnenblumen und ein Kalender aus dem letzten Jahr an der Wand.
    »Hallo, Mama«, sagte er und setzte sich an ihr Bett. Auf ihrem Nachttisch standen zwei Fotos von Fabian. Keins von ihm. Das Obst von letzter Woche hatte sie noch nicht ganz aufgegessen. Zwei Äpfel und eine bereits braun gefärbte Banane lagen in der Obstschale.
    Sie lag, die Bettdecke bis unters Kinn gezogen, und trauerte. Warum reißt du dich nicht mal zusammen?, dachte er bitter. Das Ganze liegt jetzt doch mehr als zehn Jahre zurück. Wieso hört denn dein Kummer nie auf? Das Metallgestell des Bettes vibrierte von ihrem Schluchzen. Sie weinte um Fabian, um das Schicksal, das es nicht gut mit ihr gemeint hatte. Um die unzähligen Male, die sie ihren Kleinen gesucht und so schrecklich vermisst hatte. Nichts anderes nahm sie mehr wahr. Ihn schon gar nicht. Sie schluchzte, bis sie völlig entkräftet war.
    »Was ist bloß schiefgelaufen mit uns?«, fragte sie schließlich.
    »Mit mir, meinst du wohl?«
    »Nein, mit uns allen.«
    »Ich kann mich über meine Kindheit nicht beschweren. Außer über Helmut. Ich hatte trotzdem eine beschützte Jugend, weil es dich gab. Alles, was ich nicht daraus gemacht habe, muss ich mir selbst zuschreiben.«
    »Vielleicht hätte ich mich doch nicht scheiden lassen sollen.«
    »Helmut war ein Säufer! Und ein Brutalo.

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