Unschuldig
Schaufenster, in dem eine Kopie von Botticellis »Geburt der Venus« hing. In ihrer Hektik und Aufregung hätte Paula im Moment noch nicht sagen können, ob sie so unter Druck war, weil sie dringend ins Büro musste oder weil sie sich über Manuel ärgerte, der ihr einen bösen Streich spielte. Oder ob sich aus den Tiefen ihrer kriminalistisch geschulten Sinne eine böse Ahnung in ihr Bewusstsein drängte. Den letzten Gedanken wollte sie auf der Stelle ausschalten. Um Beherrschung ringend, fragte sie sich wieder: Was könnte passiert sein? Ein Unfall? Oder hatte Manuel sich vielleicht verlaufen und fand nicht mehr zurück?
»Was ist?«, fragte der Russe. »Stimmt irgendetwas nicht?« Eitel drehte er sich in der Morgensonne zum Schaufenster, in dem er sich spiegeln konnte, und klopfte imaginären Staub von seinem Anzug ab. Ein muskulöser und sicherlich geschulter Kerl, denn in der »Schönen Welt« wurde der An- und Verkauf von kostbaren und antiken Kunstobjekten betrieben.
»Haben Sie einen kleinen Jungen gesehen? Blond, sechs Jahre alt, roter Rucksack auf dem Rücken? Er sollte auf der Sybelstraße auf mich warten und ist nun plötzlich verschwunden.«
Der Mann zog die Augenbrauen hoch. »Wann war das genau?«
»Vor etwa zwanzig Minuten.«
Er schaute zur Uhr und schüttelte den Kopf. »Da bin ich sicher. In der Zeit ist er hier nicht vorbeigekommen.«
»Danke!« Paula machte sofort kehrt und ging in das Geschäft mit den Steinen, in dem sie mit Manuel auch schon gewesen war. Dort hatte er sich lange nicht entscheiden können zwischen einem Tigerauge und einem Labradorit. Die Inhaberin hatte ihm geduldig alle Kostbarkeiten aufgezählt und zur Begutachtung vorgelegt: Amethyst, Rosa Quarz, Achatscheiben, Armbänder, Jadetiere, Ringe, Glücksgeoden für einen Euro, Specksteinelefanten, Trommelsteine und eben Labradorit und Tigerauge. Schließlich hatte Manuel doch gewählt und Paula glücklich den Labradorit vor die Nase gehalten. Sie war vor ihm in die Hocke gegangen, hatte ihn gerührt in die Arme geschlossen und seinen Geruch eingeatmet, eine Mischung aus Pfefferminze und warmer Milch. Dabei hatte sie einen kurzen Moment lang ein wehmütiges Ziehen gespürt, eine vage Sehnsucht tief in ihrem Innern.
Jetzt arbeitete ihr Hirn bereits fieberhaft verschiedene Entführungsszenarien durch. Sandra und ihr Sohn könnten beobachtet worden sein. Manuel könnte auch in irgendeinen Laden gegangen sein, wo ihm der Inhaber etwas Leckeres anbot, um ihn in einen hinteren Raum zu locken. Sie hoffte inständig, dass sie ihren Neffen endlich in dem Steineladen finden würde, aber auch dort war er nicht.
Ratlos stand sie auf der Straße und sog tief die kühle Morgenluft ein, atmete dann bewusst aus und ging ein paar Schritte. Sie musste sich beruhigen, sie durfte die Gedanken gar nicht denken, die immer heftiger in ihren Schläfen hämmerten. Verflucht , schrie sie innerlich, was ist das für eine verdammte Scheiße ?
Wie betäubt blieb Paula stehen und rief sich innerlich selbst zur Ordnung. Ich bin Polizistin und trainiert auf solche Situationen! Ich muss kühl und systematisch vorgehen!
Dann setzte sie sich mit entschlossenen Schritten in Bewegung: Im Amadeus-Hotel, das direkt neben einem Erotik-Shop lag, fragte sie an der Rezeption nach. Anschließend ging sie zum Adenauerplatz und erkundigte sich an der gegenüberliegenden Taxi-Haltestelle. Auch dort hatte niemand einen kleinen blonden Jungen gesehen, ebenso wenig wie in dem schicken Kosmetiksalon. Der Kinderladen »tokipoki« war ihre nächste Anlaufstelle. Sie hatte Manuel dort die blaue Schirmmütze gekauft, die er unbedingt haben wollte. Als sie ihn eine Minute später enttäuscht wieder verließ, bemerkte sie, wie feucht ihre Hände waren.
Schnell folgte sie weiter der Sybelstraße und legte an Tempo zu in Richtung Kantstraße. Plötzlich traf es sie wie ein kleiner Elektroschlag: die Tankstelle! Manuel kannte sie. Er hatte sogar neulich irgendetwas darüber gesagt, und sie war nicht weit entfernt vom Spielplatz! Paula blieb stehen und suchte mit den Augen jeden Meter auf dem Gelände der Tankstelle ab. Ein Radfahrer bremste scharf, klingelte und schimpfte, weil sie ihm im Weg stand. Sie ging bis zu den Tanksäulen, lief dann um das Gebäude herum und befragte den Mann an der Kasse. Fehlanzeige.
Ihre Hoffnung war nun der Spielplatz in der Mommsen. Er hatte auf der linken Seite ein eingegittertes Spielfeld mit rotem Gummiboden. Paula öffnete das grün-gelbe Tor
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