Unschuldig
zärtlich über den Kopf strich. »Warum ist Manuel weg, habe ich da gedacht, und dieser Junge hier geht fröhlich mit seiner Mutter einkaufen? Ich war richtig über mich selbst erschrocken. Weshalb soll dieser andere Junge nicht glücklich sein dürfen?«
Paula und Jonas sagten nichts. Es war ganz still in der Küche. Nur das Geräusch des Messers, mit dem Paula eine Scheibe Brot schnitt, war zu hören.
Nach einer Weile flüsterte Sandra: »Ich glaube, ich bin auf dem besten Wege, verrückt zu werden. Aber ich bin mir trotzdem sicher, dass Manuel irgendwo ganz in der Nähe ist.«
Paula legte eine Hand auf Sandras Arm und drückte ihn kurz. Als es klingelte, zuckten alle drei zusammen.
Paula stand auf und öffnete die Tür. Vor ihr stand Frank.
»Hallo, Frank. Das ist aber eine Überraschung. Woher weißt du …«
»Sandra hat mich heute Mittag angerufen. Ich möchte sie gerne sehen.«
»Wo kommst du her?«
»Mit dem Auto aus Düsseldorf. Ich hab keine Maschine mehr für den Abend bekommen. Kann ich irgendetwas tun?«
»Komm doch erst mal rein«, sagte Paula und führte Frank in die Küche. Er ging auf Sandra zu und umarmte sie unbeholfen. Paula stellte die beiden Männer einander vor und bot Manuels Vater Tee und etwas zu essen an. Er sah erschöpft aus.
Nachdem Sandra und sie Frank mit wenigen Sätzen noch einmal über den aktuellen Stand der Suche informiert hatten, zogen Paula und Jonas sich zurück. Todmüde, wie sie war, brauchte Paula unbedingt ein wenig Schlaf, um dem kommenden Tag gewachsen zu sein.
Sie wusste nicht, wie lange sie eng an Jonas geschmiegt geschlafen hatte, als sie von einem seltsamen Geräusch geweckt wurde. Erschrocken riss sie die Augen auf und sah Sandra an ihrem Bett stehen.
»Was machst du denn hier?«, flüsterte sie. Der Wecker zeigte drei Uhr.
»Frank ist wieder weg«, antwortete Sandra ebenfalls im Flüsterton. »Er ist ins Hotel und fährt morgen zurück. Er wollte sich freinehmen und hierbleiben, aber ich will das nicht. Das hat doch keinen Sinn. Er kann ja sowieso nicht helfen.«
Paula richtete sich auf. »Dann geh du doch auch schlafen. Du musst bei Kräften bleiben. Für Manuel.«
»Ich kann nicht.«
Vorsichtig schlüpfte Paula unter ihrer Decke hervor, legte den Arm um ihre Schwester und führte sie hinaus. »Ich bring dich jetzt ins Bett. Versuch es wenigstens.«
»Nein, ich schlafe sowieso nicht. Ich kann nicht.«
»Leg dich hin, ich hole dir noch eine Tablette von denen, die Jonas heute mitgebracht hat. Sie sind noch in der Küche.«
Als sie zurück ins Gästezimmer kam, lag Sandra doch schon unter der Decke. Paula setzte sich auf die Bettkante, reichte ihr ein Glas Wasser und hielt ihr auf der flachen Hand zwei Tabletten hin. Sandra richtete sich auf, sah Paula verzweifelt an und nahm mit zitternder Hand beide Pillen. Langsam schluckte sie sie mit dem Wasser hinunter.
»Warum können wir nicht morgen aufwachen und feststellen, dass nichts von alldem wirklich geschehen ist? Manuel sitzt am Küchentisch, müde und hungrig und beschwert sich darüber, dass es keine Schokoflakes mehr gibt?« Sandras bemühtes Lächeln geriet zur Grimasse.
Paula drückte sie sanft an den Schultern auf das Kissen zurück. Sandra starrte an die Decke. »Ich bin so erschöpft. Aber ich habe solche Angst, die Augen zuzumachen.«
Paula strich ihr über die Stirn. Sie hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas Unwiderrufliches passiert sein könnte. Etwas Furchtbares, das sie nicht aufhalten konnte.
40
E r lag auf einer dünnen Matratze auf der anderen Seite des Zimmers und schaute Manuel beim Schlafen zu. Der Junge wimmerte leise im Traum und warf den Kopf von einer Seite zur anderen. Das hatte Fabian auch immer getan, wenn er einen Albtraum hatte. Er stand auf und ging zu ihm, strich ihm übers Haar. Wie ähnlich der Kleine seinem Bruder sah! Er konnte sich gar nicht an ihm sattsehen. War er ebenso, wie Fabian es so oft gewesen war, in den Fängen böser Traumgespenster? Der kleine Körper bebte. Vielleicht wollte er sich ihnen gerade entwinden. Sanft berührte er den dünnen Arm. Sofort hörte der Junge auf zu wimmern. Er entfernte den Knebel, ging zu seiner Matratze zurück und öffnete eine Bierdose.
Schlaftrunken richtete der Junge sich auf und rieb sich die Augen: »Ich will nach Hause.«
»Schlaf weiter.« Er nahm einen Schluck.
»Ich kann nicht.«
»Du hast nur geträumt.«
»Es war böse.«
»Was hast du Böses geträumt?«
»Von einem Monster, das hat
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