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Unschuldig

Titel: Unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Vanoni
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mich gepackt und ins Feuer geworfen. « Jetzt liefen ihm Tränen übers Gesicht.
    »Spielte auch ein Floß oder Boot mit?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Warst du eingewickelt wie eine Mumie, und Leute haben dich in ein Boot gelegt?«
    »Ja. Kann sein.«
    »Du warst Fabian, und der Wind trieb dich auf den See hinaus.«
    »So ein großer See?«
    »Ja, der Wannsee.«
    Der Junge ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen fragte er: »Bist du böse?«
    »Was meinst du denn?«
    »Ich weiß nicht. Erst nicht, jetzt schon.«
    Er kramte in seiner Tasche und holte zwei Tüten heraus. In der einen waren Kartoffelchips und in der anderen getrocknete Ananasstückchen. »Hier, du solltest etwas essen.«
    Der Kleine strahlte, kam zaghaft zu ihm herüber und griff dann blitzschnell zu.
    »Schokokekse esse ich gern. Die mag ich lieber als Ananas.«
    Er lächelte in sich hinein und nahm auch von den Chips. Fabian war ganz verrückt auf Schokokekse gewesen. »Gut, dann bringe ich dir bald welche mit.« Der menschliche Appetit ist wirklich erstaunlich, dachte er. Er ist ungeachtet aller Umstände ziemlich hartnäckig.
    Sie aßen schweigend, und nur das Knacken der Trockenfrüchte und die knisternde Chipstüte waren zu hören.
    Das Heulen einer Polizeisirene drang von draußen herein, aber sie musste ein ganzes Stück entfernt sein.
    »Du hast mir noch gar nicht deinen Namen verraten.«
    »Manuel.«
    »Nein, ab jetzt heißt du Fabian.«
    »Warum?«
    »Weil es schön ist, dass ich dich gefunden habe.«
    »Machst du mich tot?«
    »Glaubst du das denn?«
    »Ich weiß nicht.« Die Unterlippe des Jungen zitterte.
    »Warum sollte ich dich töten?«
    Darauf wusste der Kleine keine Antwort.
    »Würdest du mich denn töten, wenn du es könntest?«
    Manuel überlegte und kratzte sich dabei am Kopf. Eine kleine Falte bildete sich auf seiner Stirn, die jetzt mit Schweißperlen übersät war. »Vielleicht. Aber ich bin zu schwach.«
    »Quatsch. Mit einer Waffe würdest du das schon schaffen.«
    »Ich will aber nicht sterben.«
    »Wenn du die Wiederverkörperung von Fabian bist, warst du schon tot.«
    »Was ist Wiederverkörperung?«
    »Hier, ich zeig dir ein Foto.« Er holte aus seiner Brieftasche ein Foto von Fabian hervor, das ihn an seinem ersten Schultag zeigte: Stolz umschlang er mit beiden Armen eine bunte Schultüte, die fast so groß war wie er selbst.
    Rückblende: Der einjährige Fabian, der mit pausbäckigem Gesicht auf dem Teppich sitzt und zusieht, wie sein Bruder durchs Zimmer tanzt; der Zweijährige, begeistert von einem Geschenk seines großen Bruders, ein rotes Feuerwehrauto; die Geburtstagsfeier im Kindergarten mit bunten Lampions und Kindergesichtern mit Schokoladenmäulchen; sein neugieriger Blick, als er die Mickymaus-Lunchbox auspackt.
    »So ein Foto von meinem ersten Schultag bekomme ich auch. Ich gehe nämlich bald in die erste Klasse«, sagte Manuel stolz.
    Er nahm noch einen Schluck Bier. Es schmeckte warm und schal. Während er trank, stieg ein rauschartiges Gefühl in ihm auf, das er von seinen Begegnungen mit Fabian kannte. Es bewirkte, dass ihm plötzlich jedes Wort und jede Geste von ganz besonderer Bedeutung erschien. Seine Wahrnehmung hatte sich geklärt, und er sah nun endlich wieder seine uneingeschränkte Macht. Er hob die Hand mit der Bierdose, und seine Bewegungen kamen ihm vor wie in Zeitlupe. Er ließ die Hand wieder sinken. Ja, er hatte den absoluten Willen und die absolute Macht, daran bestand kein Zweifel.
    Auf den Jungen schien sich diese Veränderung zu übertragen. Er lächelte ihn strahlend an. Nun sah er wirklich aus wie Fabian.
    Er spürte plötzlich, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Auf die Zuneigung, die in dem Lächeln des Kindes lag, war er nicht vorbereitet. Der Kleine ging zurück zu seiner Matratze und deckte sich zu. Beide sahen sich entschlossen in die Augen, bevor sie einschliefen. Diesmal vergaß er, den Jungen zu fesseln und ihm den Mund zu verkleben.
     

41
    A ls Paula am nächsten Morgen vor dem Kiosk am Adenauerplatz auf Tommi wartete, der sie zur Acht-Uhr-Besprechung mitnehmen sollte, überflog sie die Schlagzeilen. Beruhigt stellte sie fest, dass die Medien noch keinen Wind davon bekommen hatten, wer Manuels Kidnapper war. Also würde sie Sandra vorerst noch nicht mit der schrecklichen Wahrheit konfrontieren müssen.
    Neben Paula unterhielt sich eine elegant gekleidete Dame mit dem Zeitungsverkäufer über das verschwundene Kind in Charlottenburg und sagte: »Denen gehört der

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