Unschuldig
Schniedelwutz abgeschnitten, wenn Sie mich fragen.«
Tommi bremste scharf und hupte, die Dame machte erschrocken einen Schritt zur Seite und sagte: »Dem aber auch.«
Paula schmunzelte, als Tommi ausstieg und ihr galant die Tür aufhielt. Nachdem er mit beinahe durchdrehenden Reifen wieder losgebraust war, fragte er: »Was ist heute das Programm?«
»Ich werde dich verhaften lassen, wenn du nochmal so heftig auf die Bremse oder aufs Gas steigst«, sagte sie. »Das ist das Programm. «
»Nein, im Ernst. Wie kann ich helfen? Gibt es irgendetwas, das ich für deine Schwester oder dich tun kann?«
Paula war zwar gerührt über seine Fürsorge, blieb aber sachlich: »Wir erwarten heute eine Antwort vom Bundeskriminalamt, ob die DNA von unserem Optiker schon irgendwo registriert ist. Wenn ja, werden wir das Sondereinsatzkommando bemühen. Wenn nicht, sollten wir vorsorglich mal die Alibis aller einschlägig vorbestraften Sexualstraftäter aus dem Raum Berlin durchgehen.«
Mit Max hatte Paula am Vorabend noch ausgemacht, dass er als Erstes die PTU-Ergebnisse aus der Untersuchung von Manuels Schirmmütze in die Mustervorlagen des computergestützten Rechercheinstruments ViCLAS eintragen sollte. Die Datenbank analysierte Gewaltdelikte und verknüpfte seit über zehn Jahren Informationen zu den jeweiligen Fällen bundesweit. Seither waren alle Bundesländer miteinander vernetzt und die abgespeicherten Delikte von überall her einsehbar. Ziel war das Erkennen von Seriendelikten mit ungeklärtem oder sexuellem Hintergrund. Max würde sicher heute schon die ersten Ergebnisse liefern können.
»Aber keins der Opfer wurde sexuell missbraucht«, wandte Tommi ein.
»Vielleicht waren die Erwachsenen nur der Auftakt und nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Vielleicht ging es ihm von Anfang an um einen Jungen, der noch nicht in der Pubertät ist. Ich persönlich glaube zwar nicht daran, aber wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen.«
»Unser Kunde ist also ein stilles Wasser, der drei Morde gebraucht hat, um zum reißenden Fluss zu werden?«, fragte Tommi skeptisch.
»Möglich.«
Als sie in den Besprechungsraum der Soko kamen, waren noch nicht alle da. Das gab Paula Zeit, noch einen Blick auf die Nachricht vom BKA zu werfen – ihr Täter war nirgendwo vermerkt und auch nicht bei der Bundeswehr gewesen. Die beiden Kollegen von der Sitte nannten ihr die Zahl der registrierten und zu überprüfenden Sexualstraftäter in Berlin: Es handelte sich um achtundsechzig Personen. Die Zahl war so erschreckend hoch, dass Paula glaubte, sich verhört zu haben. »Mein Gott!«, rief sie unwillkürlich aus.
»Das sind nur die, die uns bekannt sind und sich auf freiem Fuß befinden«, sagte der jüngere Kollege. »Die Spitze des Eisbergs. Über die Dunkelziffer wollen wir erst gar nicht reden.«
»Habt ihr damit schon angefangen?«
»Ja, die Ergebnisse werden heute sukzessive reinkommen.«
»Wie lange wird es dauern, bis wir die Auswertungen sondiert haben?«
»Wenn wir Glück haben, schaffen wir es bis spätabends«, sagte Schwarzbach, der ältere Kollege. »All unsere Leute sind unterwegs. «
Die beiden waren mit Sicherheit nicht mal zwischendurch zu Hause gewesen, stellte Paula mit einem flüchtigen Blick fest. Sie waren unrasiert und hatten dunkle Schatten unter den Augen.
Inzwischen waren auch die Letzten eingetrudelt, und die Besprechung konnte beginnen. Es gab keine Neuigkeiten über Manuels Verbleib, dennoch mussten alle Untersuchungsstränge noch einmal bewusst gemacht und miteinander verglichen werden. Es war anstrengend und ermüdend, aber letztlich war es die einzige Möglichkeit für Paula, sich eine Übersicht zu verschaffen.
Zwischendurch steckte Inspektionsleiter Fischer den Kopf herein und sagte aufmunternd, es werde auch »oben« alles getan, was möglich sei. Paula tröstete diese Beteuerung nicht im Geringsten, denn für sie als Betroffene war alles zu wenig. Und was hieß das schon, »alles, was möglich ist«? Eine leere Floskel, typisch Fischer. Es arbeiteten etwa vierzig Beamte fast rund um die Uhr an dem Fall. Solche Auftritte wie dieser gerade regten sie furchtbar auf.
Um sich zu beruhigen, ging sie im Raum auf und ab. Plötzlich merkte sie, dass sie sich die Brust wie jemand hielt, der gerade mit einem Messer attackiert worden war. Sie setzte sich auf einen Stuhl und versuchte, das Gefühl der Verletzung, der Ohnmacht zu mildern. Aber sie schaffte es nicht. Dennoch – tief in ihr gab es diese
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