Unschuldig
Worten erlösen: »Ihr Kleiner war eben hier.«
Manuel hatte nämlich darauf bestanden, jeden Morgen mitzugehen, wenn einer von ihnen Brötchen holte.
»Ist er wirklich noch nie plötzlich weg gewesen?«, fragte Paula ihre Schwester.
»Doch, ja, ein einziges Mal ist das vorgekommen. Da hatte er zufällig seinen Freund im Supermarkt gesehen und war ihm nachgelaufen. Aber fünf Minuten später hatte ich ihn wieder.« Sandra schaute aus dem Fenster in den trüben regnerischen Morgen. »Jede Mutter kennt das Gefühl, auf einer vollen Straße ihr Kind aus den Augen zu verlieren. Da werden Minuten zu einer Ewigkeit. Nach einer halben Stunde ist man wahrscheinlich zu allem fähig.«
Paula berichtete ihr, wie viele Polizisten seit gestern damit beschäftigt waren, Manuel zu finden, und dass alles auf Hochtouren laufe. Die Schirmmütze erwähnte sie vorerst nicht.
»Jonas hat Tabletten für dich hiergelassen. Zur Beruhigung. Natürlich machst du dir furchtbare Sorgen, aber es ist wichtig, dass du jetzt nicht die Nerven verlierst.«
Sandra lächelte bemüht. »Eine Mutter macht sich immer Sorgen. Während der Schwangerschaft und der Geburt, dann das ganze erste Jahr. Wenn das Kind nicht richtig schläft und die ersten Kinderkrankheiten überstehen muss. Und so geht es immer weiter. « Ihre Augen wurden feucht.
Paula sollte eigentlich dringend telefonieren. Aber sie musste jetzt behutsam mit ihrer Schwester umgehen und warten, dass sie die erste Tablette nahm, wie Jonas ihr geraten hatte.
»Du sorgst dich, wenn dein Kind eine Straße überquert, zu wenig oder zu viel isst, Fahrrad fährt, hinfällt und auf Bäume klettert«, fuhr Sandra fort. »Schreckliche Dinge können ihm zustoßen. An all diese Ängste musst du dich gewöhnen. Aber dies hier?«
»Ich weiß«, sagte Paula mitfühlend und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Wie oft habe ich gedacht, dass er viel zu schnell groß wird und schon bald nicht mehr auf mich hört.« Einen Moment lang hing Sandra dem Gedanken nach. »Er liebt auch seinen Vater, obwohl er ihn nur so selten sieht. Ich wollte Manuel immer vor jeder Enttäuschung und jedem Kummer schützen, aber was kann ich jetzt tun?« Sie wandte den Kopf und schaute Paula an. »Ich habe mir immer Sorgen gemacht.«
»Ja, ich weiß«, wiederholte Paula und drückte ihre Schwester an sich.
»Haben wir dieses eine Mal Glück?«, fragte sie bange.
»Ganz bestimmt«, sagte Paula. »Ich bin für seine Sicherheit verantwortlich. Es ist meine Schuld. Du musst nur ruhig hier im Haus bleiben. Ich werde alles andere erledigen. Ich werde ihn finden, glaub mir, Sandra. Und jetzt solltest du ein bisschen was essen und danach deine Tablette nehmen.«
39
T ommi rief an, er würde vorbeikommen und sie für die Einsatzbesprechung im Büro abholen. Paula ließ ihren Tee stehen. Hunger hatte sie sowieso keinen. Sie bat Sandra noch einmal eindringlich, nicht ans Telefon zu gehen, außer wenn Paulas Handynummer auf dem Display erschien. »Es wird alles gut werden«, sagte sie. Aber irgendwie klang es selbst in ihren eigenen Ohren nicht überzeugend.
Auf der Straße vor dem Haus wartete sie auf Tommi. In einer Woche würden die Osterferien zu Ende sein, und Manuel müsste wieder in den Kindergarten. Sandra und er hatten bereits Reservierungen für die Rückfahrt. Wo wird Manuel in einer Woche sein?, fragte sich Paula. Wo war er jetzt? Genau hier hatte er gestern gestanden. Sie drehte sich um und blickte die Straße entlang, als könnte er aus einer der Haustüren herausspazieren und ihr entgegenlaufen.
An einem der Erdgeschossfenster des gegenüberliegenden Wohnhauses bewegte sich eine Gardine, und Paula sah für einen Augenblick die Umrisse einer älteren Dame.
Als Tommis Wagen vor dem Haus hielt, überquerte Paula die Straße, doch bevor sie einsteigen konnte, öffnete die Alte das Fenster und streckte den Kopf heraus. »Haben Sie den Jungen gefunden? «, rief sie.
Paula schüttelte traurig den Kopf und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
Nach der Begrüßung platzte Tommi gleich heraus: »Willst du die brandheiße Neuigkeit hören?«
»Was ist es denn?«
»Deine Soko Optiker ist jetzt erweitert worden zur Soko Manuel. «
»Aber was hat denn Manuels Verschwinden mit den Morden des Optikers zu tun?«, fragte sie entgeistert.
»Ich wollte dich gestern so spät nicht mehr damit belasten. Du hattest ja sowieso schon einen schweren Tag. Aber die PTU war nicht nur schnell, sondern auch erfolgreich. Wir haben die DNA
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