Unschuldig
der Amtsleitung genieße. Seine Rede endete mit dem aufmunternden Ruf: »Genug der Worte, nun an die Arbeit!«
Damit hatte Paula das Wort. Sie setzte sich auf eine hohe Stuhllehne, damit alle sie sehen konnten, und erklärte, warum es überhaupt zur Bildung dieser neuen Sonderkommission gekommen war. Sie berichtete von dem DNA-Abgleich, aus dem sich die mutmaßliche Identität des Optikers, wie er inzwischen auch längst in der Bevölkerung hieß, und dem Entführer von Manuel ergab.
Diese Information löste sofort Unruhe und viele Fragen aus.
Paula wartete, bis wieder Ruhe unter den Anwesenden war. Dann erläuterte sie, dass die polizeilichen Sofortmaßnahmen nach der Entführung durchgeführt und in gewisser Weise erfolgreich waren, weil man dadurch die Schirmmütze des vermissten Kindes gefunden hatte. Dabei musste sie für einen kurzen Moment innehalten und an Sandra denken. Sie spürte einen Stich – dennoch, es war ein Erfolg. Nun wussten sie, dass der Täter Manuel in seiner Gewalt hatte, wenngleich ihnen die Identifizierung des Optikers noch nicht gelungen war.
Paula kannte aber auch die Statistik, nach der bei einer Entführung mit jeder ergebnislos verstreichenden Stunde die Chancen des Opfers sanken. Dass es immer schwerer wurde, ihm zu Hilfe zu kommen. Dennoch war es erforderlich, zunächst alle versammelten Kollegen einzuarbeiten und auf den aktuellen Informationsstand zu bringen. Auf diese Weise verging der Tag mit Vorträgen, Fragen und Erklärungen, Diskussionen und dem Aktenstudium der drei Mordfälle. Zwischendurch telefonierte Paula mehrmals mit Sandra, um sie immer wieder zu beruhigen. Sandra fühlte sich wie belagert durch das wiederholte Klingeln an der Wohnungstür, das Klopfen der Kameraleute an den Türen der Nachbarn und die ständige Präsenz von Presseleuten vor dem Haus.
Am Ende des Tages kam Paula völlig erschöpft nach Hause und fand einundzwanzig Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter vor. Sie mochte nicht mehr reden, ihr Kopf war leer. Am liebsten hätte sie sich zu Sandra ins Bett gelegt und mit ihrer Schwester geweint, aber sie wollte sich keine Tränen erlauben. Sie war nur nach Hause gekommen, um genug Kraft zu sammeln, den Überblick über die Flut von Informationen zu behalten. Stündlich kamen neue herein und mussten verarbeitet, strukturiert und bewertet werden, um hoffentlich irgendwann eine Antwort auf die Frage zu bekommen, welches Motiv der Täter hatte, Manuel zu kidnappen. War der Junge womöglich das nächste Opfer? Paula musste sich zwingen, sachlich zu denken und sich nicht in Fantasien darüber zu verlieren, was er Manuel antun könnte. Würde er ihn benutzen, um Bedingungen an die Polizei oder an sie persönlich zu stellen? Wann würde er sich mit ihr oder dem Team oder Sandra in Verbindung setzen?
Die Stimmung in der Wohnung war bedrückend. Der Tisch in der Essecke war bedeckt von unzähligen blauen und gelben Papierflugzeugen, die Manuel gefaltet und Sandra im Laufe des heutigen Tages irgendwann in einer langen Reihe akkurat nebeneinandergelegt haben musste. Ihre Schwester wirkte mit ihrer starren Miene wie ein Roboter und bestand darauf, dass der Fernseher ausgeschaltet blieb. Sie konnte keine unbeschwerten und fröhlichen Menschen ertragen, und der Anblick blonder Kinder war ihr unerträglich. Auch das Radio musste ausgeschaltet bleiben, wo immer wieder die Suchmeldung nach dem sechsjährigen Manuel aus Charlottenburg lief. Die dunkelblaue Jacke, sein roter Rucksack und seine Jeans kamen zur Sprache. Vielleicht ist das sogar ganz gut, dachte Paula, denn so fragt sie sich wenigstens nicht, weshalb die blaue Schirmmütze nicht mehr erwähnt wird.
Enrico rief an, um sich zu erkundigen, ob es etwas Neues gebe. Er hatte große Probleme damit, seinem Sohn Luca zu erklären, was mit Manuel geschehen war. Paula versprach, ihn sofort zu informieren, sobald sie Manuel gefunden hätten. Sandra saß mit Jonas in der Küche und trank Tee.
»Hast du denn seit dem Frühstück überhaupt etwas gegessen?«, fragte Paula fürsorglich.
»Ja, ich hab ein belegtes Brötchen in der Bäckerei auf dem Ku’damm gekauft.«
Paula wunderte sich: »Aber wir haben einen vollen Kühlschrank! Es ist doch alles zu Hause.«
Sandra gab zu, dass sie nur in der Hoffnung auf die Straße gegangen war, Manuel dort zu treffen. Mit belegter Stimme erzählte sie, dass sie einen kleinen blonden Jungen mit seiner Mutter gesehen und beobachtet hatte, wie er die Mutter anstrahlte und sie ihm
Weitere Kostenlose Bücher