Unschuldig!
gute Erziehung, ein Gefühl von Stolz. Dabei muss er vergessen haben, ihnen das zu geben, was sie am meisten brauchten, nämlich die Freiheit, sie selbst zu sein. Seine Tochter Sheila ging mit zwanzig aus dem Haus, weil ihr Vater sie förmlich erstickt hat. Bedauerlicherweise starb sie drei Monate später.”
Sie sah von ihrem Teller auf. “Aber das wissen Sie bestimmt alles. Wenn Sie in Sachen
Gleic Éire
recherchiert haben, und davon gehe ich aus, dann wissen Sie, dass Charles' Tochter in New York City bei einem Bombenattentat ums Leben kam, für den
Gleic Éire
die Verantwortung übernahm.”
Steve mied ihren Blick. Er hasste es, sie zu belügen, aber es war schon zu spät, um noch die Wahrheit über sich und Sheila zu sagen. Julia würde glauben, dass er sie nur benutzt hatte. Anfangs hatte er nichts gesagt, weil seine Vergangenheit niemanden etwas anging. Aber jetzt hatten sich seine Gefühle für Julia verändert, und die Lüge lastete schwer auf seinem Gewissen.
Einen Moment lang war er versucht, alles zu gestehen und sich ihren Zorn zuzuziehen. Doch dann entschied er sich dagegen. Warum sollte er Erinnerungen wecken, die er so schwer hatte verdrängen können? Welchem Zweck würde das dienen?
“Ich weiß von Charles' Tochter.” Er konzentrierte sich auf das Steak, damit er Julia nicht ansehen musste. “Im Gegensatz zu Ihnen kann ich nicht viel Sympathie für ihn empfinden. Es ist schwer, diesen Mann zu mögen.”
Sie lächelte. “Und das sagt ein Mann, der mir vor ein paar Tagen eine Predigt über die Tugend der Vergebung gehalten hat?”
Er lachte. “Touché.”
Steve war sich nicht sicher, wann das Gespräch von den Bradshaws abgedriftet war, um sich ausschließlich auf Julia zu konzentrieren. Jedenfalls erzählte sie im nächsten Augenblick von ihren drei Monaten an der Kochschule, zu dem auch zwei Wochen in der Provence gehört hatten, und sie brachte ihn zum Lachen mit der Schilderung ihrer Abenteuer in der Küche eines temperamentvollen, französischen Kochs.
Sie unterhielten sich über eine Stunde lang und tranken Kaffee, während sie Anekdoten über ihre Familien austauschten. Im Verlauf ihres Gesprächs stellten sie fest, dass sie sich beide für Filme aus den vierziger Jahren, für Krimis von Agatha Christie und Erdbeereis begeistern konnten.
“Kommen Sie”, sagte er, nachdem er bezahlt hatte. “Es ist eine wunderschöne Nacht, führen Sie mich durch die Stadt.”
Mit einer Geste, die so selbstverständlich schien, als würden sie sich seit Jahren gut kennen, fasste er ihre Hand und nahm sie unter seinen Arm, während sie das Restaurant verließen.
Die Luft war kühl geworden, und auf dem Fußweg waren zahlreiche Menschen unterwegs, so dass sich Julia näher an Steve kuschelte und an seinem Arm festhielt, eine weitere Geste, die in dem Augenblick völlig natürlich wirkte.
Sie fühlte sich erstaunlich entspannt. Steve hatte es entweder zufällig oder bewusst geschafft, dass sie wenigstens an diesem Abend vergaß, dass sie immer noch unter dem Verdacht stand, ihren Exmann ermordet zu haben.
“Sie lieben es hier, nicht wahr?” fragte Steve, während sie durch das Gedränge aus Touristen und Einheimischen gingen, die jeden Abend herkamen.
“Ja, das stimmt. Es gibt wenige Orte in Monterey, die farbenvoller oder die umstrittener sind als die Cannery Row. Angefangen hat es Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als kleines Fischerdorf der Chinesen. Sehen Sie da drüben die weißen Felsblöcke?” Sie drückte sich enger an ihn, während sie in Richtung Meer zeigte. “Das waren Markierungen für die chinesischen Fischerfamilien, die von Canton aus nach Westen gesegelt waren und schließlich in die Bucht von Monterey kamen.”
“Faszinierend. Und was ist so umstritten?”
“Ein Investor möchte auf dem Standort einer großen Kunstgalerie, die geschlossen worden ist, ein Einkaufszentrum errichten. Die Händler auf der Cannery Row rasen vor Wut. Sie befürchten, dass ein Einkaufszentrum die historische Integrität des Gebietes zerstört.”
“Stellt die Stadt historische Gebäude nicht unter Denkmalschutz?”
“Das ist das Problem. Jeder war der Ansicht, dass die gesamte Cannery Row historischen Wert besitzt und damit geschützt ist. Aber jetzt behauptet die Stadt, dass nur ein einziges Gebäude in diese Kategorie fällt.”
Im Lichtschein des Vollmondes sah Julia Steves Augen funkeln. “Ich muss wohl nicht fragen, auf welcher Seite Sie stehen.”
Sie lächelte zaghaft.
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