Unschuldslamm
legte den Bon mit der Bestellung auf die Arbeitsfläche und zog sich wieder in den Gastraum zurück.
Jamila stellte den großen Topf mit der Rinderbrühe auf den Induktionsherd und schaltete diesen an, während Ruth sich um das Steak kümmerte. Sie mussten sich nicht abstimmen, bei ihnen saß jeder Handgriff, und sie kamen sich nie in die Quere.
Der Mittagsservice, der an diesem Tag früher begonnen hatte, dauerte bis weit nach vierzehn Uhr, so dass Ruth und Jamila erst gegen fünfzehn Uhr die Küche sauber sowie die Reste für die Lagerung präpariert hatten und sich bei einem kleinen süßen Café noir, den Susan ihnen zum Abschluss ihrer Schicht hinstellte, eine erste Atempause gönnten.
Jamila öffnete die Tür in den Hinterhof und stellte den Behälter mit den Küchenabfällen nach draußen. Sie blinzelte in den grauen Himmel und zündete sich eine Zigarette an. Ruth, die seit ihrer Schwangerschaft mit Lukas von dem Laster befreit war, sah zu, wie die Marokkanerin den ersten Zug tief inhalierte und dann den Rauch genüsslich durch die Nase ausstieß. Es war stets dieser eine Zug, dieser erste, den Jamila nach dem stressigen Mittagsservice tat, um den Ruth ihre Freundin beneidete. Obwohl sie nie mehr das Bedürfnis verspürt hatte, wieder mit dem Rauchen zu beginnen, ganz im Gegenteil, aus ihr war eine überzeugte Nichtraucherin geworden, war sie manchmal drauf und dran, Jamila um einen Zug aus ihrer Zigarette zu bitten. Wenn Jamila an ihrer Kippe sog und dabei den Kopf leicht in den Nacken legte, die Augenlider träge schloss und den Rauch ganz langsam ausstieß, schien es, als atme sie sich damit jeden Stress und jede Anspannung von der Seele. Es schien genau das zu sein, was Ruth jetzt auch dringend benötigt hätte. Sie hatte es gestern mit dem schweren Bordeaux versucht. Hatte sich betäuben wollen, beruhigen, den Gedanken an Derya, Aras und ihre Eltern hinunterspülen wollen, aber es hatte nicht funktioniert. Ruth hatte sehr schlecht geschlafen, geschwitzt, geträumt und sich herumgewälzt und war am Morgen mit trockenem Gaumen und dickem Schädel aufgewacht. Und natürlich wusste sie, während sie Jamila beim Rauchen zusah, dass ein Zug von der Zigarette die bösen Gespenster ihrer Gedanken nicht vertreiben würde.
»Es ging um den Mord an einem jungen Mädchen«, fing sie unvermittelt das Gespräch an. »Derya Demizgül. Sie war auf Annikas Gymnasium.«
Jamila sah sie überrascht an. Natürlich wusste auch sie, wer die junge Kurdin gewesen war. Nicht, dass Jamila sie gekannt hatte, aber das Schicksal der Sechzehnjährigen hatte vor einem halben Jahr viele Menschen in Berlin sehr beschäftigt. Es war der wiederholte Anlass gewesen, über die deutsche Migrationspolitik und die Probleme der noch immer nicht zusammengewachsenen Stadt nachzudenken. Es hatte Podiumsdiskussionen gegeben über die Probleme der Integration und Demonstrationen von jungen Musliminnen, die sich von den Patriarchen nicht unterdrücken lassen wollten. Und nicht zuletzt hatten an jedem Sicherungskasten in Moabit, an jeder Straßenlaterne, auf den Mülleimern und den Busfahrplänen schwarze Sticker geklebt mit dem schlichten Slogan: »Derya, R. I. P.«. Eine Aktion ihrer Mitschüler vom 12. Gymnasium, das hatte Annika Ruth erzählt.
»Diese Sache?!« Jamila zog erneut an ihrer Zigarette und kniff dabei die Augenbrauen zusammen. »Das ist ja hart. Das war doch der Bruder, oder?«
»Er ist jedenfalls der Angeklagte«, gestand Ruth ein. »Aber der Prozess läuft ja gerade erst an. Gestern haben die Sachverständigen ausgesagt, die Polizisten, die Sanitäter. Es gibt noch fünf Verhandlungstage.« Ruth trat nun neben Jamila in den Hinterhof. Es war sehr kalt, die Minusgrade hielten auch tagsüber an, und Ruth schlang die Arme fest um den Oberkörper. Vor Mund und Nase bildeten sich weiße Wölkchen, Ruth atmete die Kühle tief in die Lungen. Es tat ihr gut, bestimmt besser als ein Zug von der Zigarette.
»Ich war darauf nicht vorbereitet.« Ruth schluckte und überlegte, ob sie Jamila davon erzählen sollte. Von dem, was sie sich in dem nüchternen Gerichtssaal anhören musste und was sie noch jahrelang verfolgen würde. Und nicht nur sie. Vor allem die Eltern würden immer wieder daran denken müssen, wie ihr kleines Mädchen zu Tode gekommen war. Vielleicht sogar durch die Hände ihres Sohnes.
Einsatzprotokoll der Polizeidirektion 2
Abschnitt 22
Am Sonntag, den 26. August 2013, um 1.25 Uhr geht ein Notruf ein: An der
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