Unschuldslamm
Wenn sie den Mord gesehen hatte, warum ging sie nicht zur Polizei?
Die Antwort ließ Valentin schaudern. Der Gedanke, dass er sich mit jemandem geschrieben hatte, der dabei gewesen war, als Derya starb, vielleicht sogar selber das Messer in der Hand gehabt hatte, ließ ihn frösteln. Er musste mit irgendwem darüber sprechen. Diese Sergul kannte Aras. Sie wusste, wer der Täter war. Also kannte vielleicht auch Aras den wahren Täter. Vielleicht ohne zu wissen, dass dieser Jemand seine Schwester getötet hatte.
Valentin sprang auf, zog die Beine ein-, zwei-, dreimal an und sprintete dann über die Terrasse des Vereinsheims und die Treppe nach unten in Richtung S-Bahnhof Olympiastadion. Der hatte noch auf, die letzte Bahn war noch nicht durch. Er nahm fünf Stufen auf einmal, rannte, so schnell er konnte, über den Bahnsteig bis zu der gegenüberliegenden Treppe und nahm den linken Ausgang. Er würde mit jemandem reden müssen, noch bevor der Prozess zu Ende war. Nicht mit der Polizei. Seine Falschaussage und seine verlogene Mutter hatten schon genug Wirbel verursacht, er hatte keinen Bock, schon wieder mit den Typen zu reden. Vielleicht mit dem Anwalt? Er schwitzte, während er die Trakehner Allee herunterrannte, rechts abbog, unter der S-Bahn hindurch und dann links. Er würde darüber nachdenken. Morgen. Übermorgen.
B ERLIN- M OABIT, B OCHUMER S TRASSE,
EIN D IENSTAG IM F EBRUAR, SIEBZEHN U HR
Annika hob die kleine Naima hoch über ihren Kopf und schüttelte dabei den kleinen Körper spielerisch hin und her. Naima kreischte laut und prustete, die weichen dunklen Löckchen flogen, die abgespreizten Ärmchen flatterten aufgeregt links und rechts vom Körper, als versuchte sie zu fliegen. Annika trieb das Spielchen nun schon ein paar Minuten lang, und sowohl Jamila als auch Ruth betrachteten ihre jeweilige Tochter voller Stolz. Schließlich setzte Annika die kleine dunkle Schönheit in ihren Buggy, zog ihr die Teddymütze resolut über beide Ohren und sprach mit Jamila noch einmal das genaue Ritual des Ins-Bett-Bringens durch. Dann schob sie den Buggy zur Tür hinaus, und die beiden Mädchen verschwanden in der trüben Dämmerung dieses Berliner Winterabends.
Draußen war es feuchtkalt, die Kälte kroch förmlich in die Knochen, es wurde, trotz der mittlerweile wieder längeren Tage, nie richtig hell, und Ruth war dankbar für ihr heimeliges kleines Bistro. Im »La Paysanne« war es warm und gemütlich, es roch nach Zimt, Nelken und Orange, weil Jamila überall selbstgemachte Potpourris aufgestellt hatte. Ruth freute sich auf den Abend, den sie gemeinsam mit ihrer Freundin im Laden verbringen würde, und war der Marokkanerin zutiefst dankbar, dass diese dafür einen kostbaren Familienabend opferte. Annika hatte sich bereit erklärt, bei Naima das Babysitten zu übernehmen, was ihr wiederum Ruth mit ein paar neuen Schuhen vergolten hatte.
Angesichts des vergangenen Verhandlungstages, der so unerwartet mit der Zeugenaussage zu Ungunsten von Aras Demizgül geendet hatte, hatte Ruth am Wochenende Bilanz gezogen. Das getötete junge Mädchen, zwei kaputte Familien – die Demizgüls und die Bucherers –, ihr kranker Vater, ihre Schwester Regine, die so frustriert durchs Leben ging, Johannes, der seinen Job verloren hatte und dessen zweite Lebensbeziehung anscheinend gerade in die Binsen zu gehen schien – all das hatte Ruth dazu gebracht, sich für eine spontane Fete zu ihrem Fünfzigsten zu entscheiden. Sie wollte leben, sie wollte feiern, sie wollte mit ihren Freunden und ihrer Familie zusammen sein, sie wollte demütig und dankbar sein für ihre Kinder, ihre Gesundheit und ihre berufliche Existenz, kurz: Ruth wollte das Leben genießen.
Sie hatte vor, das Bistro am Freitag komplett zu schließen und mit Jamila alles vorzubereiten. Die Planung dafür wollten die beiden Frauen am heutigen Dienstag vornehmen, sich überlegen, was es zu essen und zu trinken geben sollte, ob man eine Tanzfläche freiräumen sollte oder nicht und wer am Samstagmorgen nach der Feier den Laden wieder aufsperren würde. Oder nicht.
Jamila hatte sich sofort begeistert gezeigt. »Wir hatten noch nie eine Party! Ruth, das ist klasse. Und zum 5. Bestehen machen wir gleich noch eine.«
Ruth lachte. »Nee danke, vermutlich ist mein Bedarf dann gedeckt.«
Jamila wurde ernst. »Ich find’s gut, dass du dich dazu entschieden hast. Du warst ganz schön down.«
»Ich hab mich schon gefragt, ob es geschmacklos ist, eine Party zu machen«,
Weitere Kostenlose Bücher