Unschuldslamm
war seine verdammte Pflicht, sich um den Kleinen zu kümmern. Das war nicht das Schlechteste. Sie hatten Spaß zusammen. Er freute sich, wenn Jonas sich freute. Jonas hing an ihm, und Valentin war es recht. Im Gegensatz zu den meisten seiner Altersgenossen war ihm sein kleiner Bruder keine Last. Er machte alles mit ihm, was er in dem Alter versäumt hatte. Nicht, dass seine Eltern nichts mit ihm unternommen hätten. Sie hatten ihn auf jede Party mitgeschleift, auf die sie eingeladen waren, und hielten das für progressive Erziehung. Sie hatten für ihn Trommelworkshops bei den Berliner Philharmonikern gebucht und ihn in ein Segelcamp in die Ägäis geschickt. Aber sie hatten nie etwas Normales mit ihm gemacht. Valentin war stets begeistert gewesen, wenn er zu einem Geburtstag eingeladen war, und man ging zum Bowlen. Oder eine befreundete Familie nahm ihn zum Biken mit. In einen Klettergarten. Ins Schwimmbad. Oder eben in die Skaterhalle. Nun war es das, was Valentin mit seinem Bruder unternahm. Der Kleine liebte ihn dafür abgöttisch.
Nach dem Skaten hatten sie sich bei McDonald’s versorgt und waren in Valentins Zimmer abgetaucht. Sie hatten zusammen ein paar Spiele auf der X-Box gezockt, danach hatte er Jonas seinen Computer überlassen und war rausgegangen. Er übte gerne Parkour, nachts, in der Stadt, allein. Rund um das Stadion, das war sein Revier. Es gab hier jede Menge Challenges. Er wurde immer besser. Seit zwei Jahren kletterte er und trainierte Sprünge. Ernsthaft verletzt hatte er sich noch nie, aber es war wichtig, immer geschmeidig zu bleiben, sich fit zu halten. Und er hörte nur selten Musik dabei. Valentin konzentrierte sich voll auf die Geräusche, die er beim Klettern verursachte. Wenn die Turnschuhe über den Stein glitten, das hörte sich jedes Mal anders an. Backstein klang anders als rauer Granit. Asphalt machte ein stumpfes Geräusch, polierter Stein hallte etwas nach. Und er horchte auf seinen Atem. Er versuchte, total gleichförmig zu atmen, ruhig, beherrscht. Aber es gelang ihm nicht immer. Manchmal stöhnte er vor Anstrengung oder hielt den Atem an, wenn es besonders schwierig wurde.
Jetzt zum Beispiel, er war auf den letzten Metern. Noch vielleicht fünfzig Zentimeter, dann würde er die Bruchkante der Mauer erreicht haben. Er krallte seine Finger in die winzigen Spalten im Gestein. Seine Füße stützten unten, aber er war nicht sehr stabil, seine Waden zitterten vor Anstrengung, er kam nicht vorwärts und nicht rückwärts. Er hing wie eine Spinne über dem Abgrund an der Mauer. Valentin schloss die Augen und versuchte, seinen Atem zu kontrollieren.
Ein, ein, aus, aus, aus.
Ein, ein, aus, aus, aus.
Er schnaufte durch die Nase. Angst hatte er nicht. Aber er musste mehr Willen aufbringen. Den Willen, eine Hand aus dem Stein zu lösen und nach oben zu fassen. Sich dazu mit den Zehenspitzen abzustoßen und den Körper hochzufedern. Nicht zu sehr, gerade so viel, dass er sich ein winziges Stück weiterschieben konnte.
Valentin hatte den Atem unter Kontrolle, und auf einmal spürte er, wie er leicht und entspannt wurde. Er ließ los, aber anstatt in die Tiefe zu stürzen, griff er mit der linken Hand nach oben, fand Halt und schob sich noch ein Stück weiter, der rechte Fuß setzte nach, und schließlich konnte er mit den Fingern der rechten Hand auf die Plattform fassen. Noch zweimal nachgesetzt, und er lag auf der Mauer. Er rollte sich auf dem kalten Stein auf den Rücken, presste kraftvoll die Luft aus den Lungen, schloss die Augen und breitete die Arme aus. Sein Gehirn war leer, total leer.
Erst als er die Augen wieder öffnete und nach oben in den klaren Nachthimmel blickte, kamen die Gedanken zurück. Aras war unschuldig, hatte sie geschrieben. Das war wichtig, das sollte er wissen. Sie kannte den Mörder. Oder die Mörderin. Aber sie wollte es ihm nicht sagen. Sie hatte nur immer wieder darauf beharrt, dass Aras unschuldig war. War sie es am Ende selbst, Sergul aus Ankara, von der er nichts wusste? Die behauptet hatte, sie sei eine Freundin? Von wem auch immer. Plötzlich war sie offline gewesen, und am nächsten Tag war ihr Account gelöscht. Scheiße.
Valentin rollte sich auf den Bauch, schob die Unterarme ineinander und stützte sich darauf ab. Jetzt schaute er in Richtung Grunewald. Sah die roten Positionslichter von Kränen oder Windrädern oder dem zerfetzten Turm auf dem Teufelsberg.
Was sollte er mit der Info anfangen? Warum sagte diese Sergul ausgerechnet ihm das?
Weitere Kostenlose Bücher