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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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gestand Ruth ein.
    Jamila guckte überrascht.
    »Wegen Aras«, erklärte Ruth. »Das war ziemlich heftig …«
    Jamila unterbrach sie heftig. »Er ist nicht dein Sohn! Und vielleicht ist er der Mörder – hast du daran schon gedacht? Dann bekommt er die Strafe, die er verdient hat. Ruth, nicht alle Menschen sind so gutherzig wie du.«
    Ruth malte mit dem Löffel eine Blume in ihren Milchkaffeeschaum. Selbstverständlich hatte Jamila recht. Wie eigentlich immer. Es war nicht zwangsläufig eine schlechte Nachricht, dass der Zeuge Aras identifiziert hatte als denjenigen, der mit Derya in das Wäldchen gegangen war, kurz vor dem Mord. Wenn er der Mörder war, musste er zur Rechenschaft gezogen werden. Aber es hatte sie trotzdem tief erschüttert, weil sie so sehr von seiner Unschuld überzeugt gewesen war.
    Nach der Verhandlung hatten sie noch auf einen Kaffee im Beratungszimmer gesessen, Veronika Karst hatte darauf bestanden.
    »Sehen Sie«, hatte sie sich direkt an Ruth gewandt, »deshalb ist es so wichtig, dass wir, die Richter, völlig unvoreingenommen sind. Dass wir die Ermittlungsunterlagen nicht kennen und nicht in die Polizeiarbeit involviert sind. Man macht sich ein anderes Bild, wenn man über Wochen und Monate mit den Ermittlungen zu einem Fall befasst ist. Der Staatsanwalt muss von der Schuld des Angeklagten felsenfest überzeugt sein. Wir nicht. Und dennoch …«
    »… nimmt die Verhandlung manchmal eine Richtung, die man nicht erwartet«, beendete Ernst Hochtobel den Satz. Er hatte kurz zuvor Ruth ein kleines Quadrat Traubenzucker angeboten, wohl, weil er gesehen hatte, dass sie einen plötzlichen Schwächeanfall gehabt hatte. Nur mit Mühe hatte Ruth ihre Tränen im Gerichtssaal zurückhalten können, kaum aber hatten die Richter sich zurückgezogen, liefen ihr ein, zwei über die Wange. »Ich versteh das nicht«, hatte sie immer wieder in ihr Taschentuch geschluchzt, und Veronika Karst hatte ihr beruhigend die Schulter getätschelt. Und darum gebeten, dass sie sich noch einmal in kleiner Runde zusammensetzten, bevor jeder mit den Eindrücken des Tages allein ins Wochenende ging.
    »Ich gebe zu«, meldete sich der ältere Richter nachdenklich zu Wort, »dass ich den jungen Mann mehr und mehr für unschuldig gehalten hatte. Er machte einen guten, beherrschten und ausgeglichenen Eindruck auf mich. Ich habe ihm die Tat nicht zugetraut.«
    »Das letzte Wort ist ja auch noch nicht gesprochen«, erinnerte Veronika Karst. »Wir werden sehen, wohin uns diese Aussage führt. Der Zeuge war sich nicht hundertprozentig sicher. Das ist noch lange kein Beweis für die Tat. Wir müssen jetzt sehen, was Staatsanwaltschaft und Verteidigung beim nächsten Verhandlungstag vorlegen.«
    Damit hatten sie die kleine Richterrunde aufgelöst, und Ruth war in düsterer Stimmung nach Hause aufgebrochen.
    »Ruth«, Jamila schüttelte sie sanft am Oberarm und holte sie aus ihren Gedanken. »Du kannst dir die Schicksale nicht jedes Mal so zu Herzen nehmen. Du hast noch fünf Jahre Schöffenarbeit vor dir – wo soll das sonst enden?«
    Das allerdings war eine Frage, die Ruth sich in den vergangenen Wochen oft gestellt hatte. Wie konnte sie dieses Ehrenamt emotional durchstehen, wenn sie davon so umgetrieben wurde wie bei diesem Fall? Allerdings redete Ruth sich ein, dass es bei dem Fall Demizgül besonders schwer war, Distanz zu wahren. Zum einen, weil das Opfer eine Mitschülerin von Annika war, und zum anderen, weil die Familienkonstellation mit dem älteren Bruder und der kleineren Schwester ihrer allzu sehr glich. Bestimmt würde Ruth andere Fälle weniger an sich heranlassen, wenn diese weniger Berührungspunkte mit ihr persönlich hätten.
    Sie betete, dass der nächste Fall, dem sie zugelost werden würde, ein Wirtschaftsverbrechen sei.
    Oder vielleicht doch nicht?
    Jetzt klatschte Jamila in die Hände. »Das Wichtigste: Wer legt auf?«
    Y ASIKAN K ÖYÜ, S ÜDOSTANATOLIEN,
IM A UGUST DES V ORJAHRES, FÜNFZEHN U HR ZWANZIG
    »Mein Bruder ist kein Monster.« Sergul legte ihren Arm tröstend um Deryas Schultern.
    »Scheiße, Sergul, darum geht’s doch nicht!« Derya hatte keinen Bock, sich beschwichtigen zu lassen. Warum schnallten die das alle nicht? Jetzt auch noch Sergul! Sie hatte wirklich gedacht, die Cousine sei auf ihrer Seite.
    »Die wollen mich verheiraten! Einfach so! Ich werde nicht mal gefragt!« Derya war sofort wieder auf hundertachtzig. Es war der Tag der Abreise, sie hatte kein Auge zugemacht. Beinahe

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