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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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wenn die Verbindung zum gewöhnlichen, üblichen Leben fehlt. Reiche Leute werden unausstehlich, sie neigen zu Exzessen, zu Haltlosigkeiten, sie gleichen losgerissenen Booten, auf denen sie noch Musik machen.«
    Er lachte.
    »Es steht Ihnen frei, auszusteigen und mich zum Teufel zu schicken.«
    »Nein, Doktor«, sagte ich, »ich werde Ihnen meinen Krankenschein schicken.«
    Er grinste. »Und ich freute mich schon auf einen Privatpatienten.«
    »Haben Sie hier keine?«
    »Hier sind die dicksten Bauern noch in der Krankenkasse«, sagte er, »sie haben eine Beziehung zum Arzt, aber auch eine zum Geld.«
    »Was war mit der Frau, Doktor?« fragte ich.
    Er wurde sofort ernst. Er sah mich prüfend an, als wolle er sich selber noch einmal die Gründe vergegenwärtigen, die ihm erlaubten, offen zu reden.
    »Diese Frau will kein Kind mehr«, sagte er knapp. »Sie ist etwas über vierzig und vollkommen gesund.«
    Er wurde abwesend. »Früher kam sie in die Sprechstunde, und wenn ich sie sah, wußte ich, was los war. Sie sagte keinen Ton, sie sah mich nur an.« Etwas rauh setzte er hinzu: »Ich wünsche Ihnen diesen Blick nicht. Sie sagte niemals etwas, weil es nicht nötig war, etwas zu sagen. Ist Ihnen das schon mal passiert, daß Sie reden und Sie wissen genau, die Worte sterben in der Luft, sie kommen gar nicht an? Ich schickte sie jedesmal nach Hause, ich sagte: Nein, ich mache das nicht. Ich habe ihr eine Menge Sachen gesagt, die alle gut überlegt waren. Aber sie hörte sie gar nicht. Sie stand abends sogar vor dem Hau s, stumm in der Dunkelheit, und ich sah sie vom Fenster aus. Wissen Sie«, setzte er nachdenklich hinzu, »üblicherweise stellt man sich Verzweiflung immer sehr laut vor, begleitet von Tränen, von Ausbrüchen, das alles stimmt nicht. Die wirkliche Verzweiflung ist stumm, die hören Sie gar nicht. Sie sitzt unter der Haut, die Haut selber lügt.«
    Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Jetzt hat sie an sich herumgepfuscht, gelegen, geschwiegen, gelitten. Und eine Infektion, die — «, er zögerte und fuhr leise fort, »die wahrscheinlich tödlich ist. Es sei denn, es geschieht ein Wunder.«
    »Kommt so was nicht öfter vor?« fragte ich, mehr aus dem Wunsche heraus, mich seiner Stimme zu entziehen.
    »Ja«, antwortete der Doktor, »in der Stadt mehr als auf dem Lande, denn hier hat man weniger Angst vor Kindern. Normalerweise«, setzte er hinzu. »Ich lebe seit vielen Jahren hier, deshalb kenne ich die Geschichte dieser Frau. Eine stille, fleißige Frau, die ihre ganze Fürsorge auf ihren Mann verwendet. Diese Fürsorge ist ihr Problem. Eine solche Fürsorge hat eine Frau, oder sie hat sie nicht. Sie hat sie in einem übergroßen Maße. Für alles, was sie liebt, sorgt sie in der selbstlosesten Weise. Sie fühlt sich verantwortlich. Nicht für sich selbst, immer für andere.« Er sah mich fast ein wenig spöttisch von der Seite an.
    »Eine normale Geschichte, wie?«
    Er sprach langsam weiter. »Sie hatte drei Kinder und kam mit diesen drei Kindern von Danzig her, quer durch den Krieg. Das jüngste war drei Monate alt, die anderen beiden anderthalb und drei Jahre. Sie war mit ihnen auf der Flucht, wie so viele andere auch. Sie übernachtete in Scheunen, in kalten Schulen, in überfüllten Wartesälen, in Waggons von Zügen, die nicht abfuhren. Menschen wie sie befinden sich ständig in hoher Erregung. Ihr natürliches Fürsorgegefühl kulminierte, beherrschte sie völlig. Es ließ sie stehlen, es machte aus dieser sanften Frau ein Tier. Sie prügelte sich mit anderen um Lebensmittel, um einen warmen Platz an irgendeinem Ofen. Ich bin sicher, sie hat kaum ein Auge zugetan, denn ihre Blicke waren ständig auf ihre Kinder gerichtet.«
    Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Das jüngste starb zuerst. Der eisige Winter, keine Milch. Man kann keinen Säugling mit Malzkaffee ernähren. Sie legte das Kind in den Schnee. Das Fleisch wurde weiß, es gefror. Und sie starb zum ersten Male. Sie starb ein bißchen mit, wissen Sie.
    Das zweite Kind verlor sie auf einem Bahnsteig. Achthundert Menschen stürmten einen Zug. Da starb sie wieder ein bißchen, ein bißchen mehr. Und mit dem letzten Kind stand sie an der Elbe, gar nicht weit von hier. Es gab keine Brücken, keine Boote. Da suchte sie eine Schnur. Sie löste sie von einem der vielen Koffer, die herrenlos am Ufer lagen. Sie band das Kind an sich und ging in die Elbe. Man fand sie und brachte sie ins Leben zurück, aber das Kind war

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