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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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mit dem Autobus weiterzufahren. Bei schlechtem Wetter paßte er das Molkereiauto ab und brachte dafür dem Fahrer Liebesromane aus der Kreisstadt mit.
    »Gab es nicht noch ein Ablenkungsmanöver?« fragte ich.
    »Ja«, antwortete die Frau des Doktors, »unsere Tochter Helga. Sie ist siebzehn und kommt immer nur zum Wochenende nach Hause.«
    »Ist das nicht ein umständliches Familienleben?« fragte ich.
    »Dafür ein intensives«, erwiderte der Doktor, »man muß die Augenblicke wichtiger machen als die Dauer.«
    Aber ich übersah nicht den Ausdruck von Trauer im Gesicht seiner Frau.
    Draußen hörte man plötzlich einen Wagen.
    Er hielt vor dem Hause, und gleich darauf ging die Türglocke.
    »Das ist Ursula«, sagte die Frau des Doktors, »ich sagte, daß du heute früher zurück bist.«
    Sie ging an die Tür und ließ eine junge Dame herein.
    Im Aufstehen sah ich durch das Fenster den Wagen vor der Tür. Es war ein weißer Sportwagen.
    Die junge Dame sah städtisch aus und machte einen faszinierenden Eindruck. Sie war groß und schlank, fast mager. Sie trug die dunklen Haare eng anliegend und modisch frisiert. Sofort fiel mir das vollkommen weiße Gesicht auf. Sie unterstützte den Eindruck, dessen sie sich bewußt zu sein schien, durch ein schwarzes Jackenkleid.
    Sie begrüßte den Doktor und seine Frau, und dann sah sie mich an. Sie verhielt den Blick etwas, fast wie in einer nachdenklichen Frage. Dann wandte sie den Kopf leicht, anmutig weg.
    »Gehen wir hinüber, Ursula«, sagte der Doktor und ging mit der jungen Dame in die Praxisräume.
    »Die haben die Zementfabrik«, sagte der Sohn, »und ihr Vater kann auch nicht Latein.«
    »Bist du so sicher?« fragte ihn seine Mutter.
    »Ja«, antwortete der Stupsnasige, »ich sagte mal zu ihm: Per aspera ad astra . Und er sagte: Der Düwel ock , du rauchst schon Zigaretten?«
    Ich verließ das Haus des Doktors.
    Ich ging hinüber zu meinem Gasthaus.
    Da waren ein paar Bauern, die mit roten Gesichtern über ihrem Schnaps saßen. Die Wirtin trug ein buntes Kleid und lächelte mich an, als gehörte ich ein bißchen dazu.
    Aber ich ging in mein Zimmer und legte mich auf das Bett.
    »Manche Kranken«, hatte der Doktor gesagt, »muß man nur an die Hand nehmen und über die dunkle Strecke hinwegbringen.« Das hatte er mit mir getan, aber nun kam die Einsamkeit zurück.
    Ich lag auf meinem Bett, bis es dunkel wurde. Dann ging ich hinunter, um eine neue Flasche Wacholderschnaps zu bestellen. An der Theke stand die junge Dame mit dem weißen Gesicht, sprach mit der Wirtin und hielt mitten im Satz inne, als sie mich sah.
    Sie lächelte ein wenig, und ich erwiderte das Lächeln.
    Ich sah sie genauer an. Die Haut ihres Gesichtes war wirklich sehr weiß, durchscheinend wie Porzellan, dennoch von großer Intensität. Ihre Finger waren lang und schmal und bewegten sich ständig. Sie drehten ein Schnapsglas ruhelos hin und her.
    »Ich bin oft in Hamburg«, sagte sie, »ich fahre ständig hin und her.«
    Ihre Stimme war halblaut, ohne Melodie. Alles war wie auf einen Ton gesprochen. Aber auch ihre Stimme machte einen Eindruck von Intensität.
    »Beruflich?« fragte ich.
    Sie lachte ein wenig, fast verwundert. »Nein«, sagte sie, »ich
    fahre, wie es mir in den Sinn kommt. Machen Sie es nicht auch so?« fragte sie und sah mich an.
    Diese direkte Ansprache enthüllte etwas, und ich wußte nicht genau, was es war, eine Art von Bedenkenlosigkeit, von Mut, ja, ein wenig von Frechheit.
    Die Wirtin stand da und sah uns neugierig an.
    Ich hatte das Gefühl, daß sich irgend etwas abspielte, wie nach festen Regeln.
    »Sie sollten uns mal besuchen«, sagte die junge Dame, »wir haben die Zementfabrik in Voerdecke .«
    Sie schlug dabei die Augen nieder, und ich vermutete plötzlich, daß es wegen der Wirtin war, die stumm hinter ihrer Theke stand.
    »Nimmst du noch einen?« fragte die Wirtin.
    Die junge Dame zögerte, sah zur Tür und sagte aufatmend: »Nein, ich muß gehen.«
    Der Doktor war nämlich hereingekommen.
    »Noch hier?« fragte er, und die junge Dame lächelte, wobei es wie ein Schatten über ihr Gesicht fiel.
    »Ja, aber ich fahre jetzt.«
    Sie bezahlte, warf mir keinen Blick mehr zu und ging hinaus.
    »Ich wollte Ihnen einen Vorschlag machen«, sagte der Doktor, »wir haben ein Zimmer bei uns frei, und ich meine, Sie sollten umziehen. Es macht uns nicht das geringste aus, und für Sie ist es etwas bequemer.« Leicht setzte er hinzu: »Falls Sie nicht überhaupt abfahren

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