Unser Doktor
ertrunken.«
»Herrgott«, sagte ich, »was erzählen Sie für Geschichten.«
»Es gibt Millionen Menschen«, sagte er ruhig, »die Schreckliches mitgemacht haben. Man sieht es ihnen heute nicht mehr an. Sie glauben fast ihre eigenen Geschichten nicht mehr. Obwohl sie da sind und ihre Wirkungen haben. Wirkungen bis heute. Wirkungen, die den Ursprung kaum noch erkennen lassen. Die Gegenwart nimmt ihr Recht wahr und bringt selbst die Traurigsten wieder zum Lachen.«
Langsam setzte er hinzu: »Nur wenn diese Frau Leben in ihrem Bauch spürte, war alles wieder da.«
Er schwieg.
Die Zigarette hing kalt zwischen seinen Fingern.
Wir überholten jetzt einen Pastor, der sein Fahrrad schob.
»Halten Sie mal an«, bat der Doktor.
Er kurbelte das Fenster herunter.
»Was passiert, Herr Pastor?«
Der Pastor war ein kräftiger Mann mit rotem, gesundem Gesicht.
»Nein«, sagte er, »ich war bei den Siedmanns. Goldene Hochzeit. Ich wollte sie nicht beleidigen und nahm den Schnaps, den sie mir andauernd einschenkten. Sie sagen >Gott befohlen, Herr Pastors und dann bin ich machtlos.«
Er lachte. »Ein Pastor, der sein Rad schiebt, mag komisch sein, aber einer, der vom Rad fällt, ist es sicher noch mehr.«
Der Doktor freute sich.
»Schlicht gesagt, Herr Pastor, Sie sind betrunken.«
»Ich hab’ mir gedacht«, seufzte er, »daß Sie diesen Ausdruck anbringen würden.«
Der Doktor stieg aus.
Er befestigte das Rad geschickt am Gepäckträger des Wagens, und der Pastor stieg schwerfällig ein.
Er musterte mich: »Sind Sie der Herr aus Hamburg?«
»Ja«, bestätigte ich und wunderte mich etwas.
»Für die Sommerfrische etwas früh«, lächelte er und fuhr gleich fort: »Sie haben ein gewaltiges Auto. Was kostet so was?«
Der Doktor warnte mich. »Vorsicht, sagen Sie ihm nichts über Ihre Vermögensverhältnisse. Er sucht immer jemanden, der ihm für seine Kirche eine neue Glocke spendiert.«
»Die alte hat wirklich einen scheußlichen Klang. Sie war im Kriege lange in Hamburg auf dem Glockenlager, bei Wind und Wetter, das hat sie heiser gemacht.«
Der Pastor sah mich forschend an; da ich nicht reagierte, setzte er hinzu: »Besuchen Sie mich mal, wir trinken eine Flasche Wein zusammen. Der Doktor schnappt einem immer die Gesprächspartner weg.«
»Und Sie mir die Patienten«, grinste der Doktor.
»Er wird es nie vergessen«, murmelte der Pastor und erklärte mir: »Der Doktor warf einmal eine Frau aus der Praxis, weil er ihre Hysterie nicht mehr ertrug. Sie kam spornstreichs zu mir
und sagte: >Der Doktor ist ein Ekel, helfen Sie mir, Herr Pastor. <«
Er seufzte. »Die Dame singt bei mir im Kirchenchor, und gegen ihre Stimme ist nichts zu sagen. Ich hörte ihr zu und gab ihr eine Tablette, die ich sonst meinen Katzen ins Fressen tue, wenn sie ihre wilden Tage haben.«
Er lachte, und auch der Doktor stimmte in das Lachen ein.
Die beiden Männer mochten sich, das spürte ich sofort.
Wir kamen vor der Praxis des Doktors an.
Der Pastor stieg aus, wiederholte seine Einladung, schien einen Moment zu überlegen, ob er das Rad besteigen solle, entschloß sich aber dann, es doch lieber zu schieben. In würdevoll ruhigem Gang verschwand er in der Dorfstraße.
»Ihr Beruf muß Sie sehr befriedigen, Doktor«, sagte ich.
»Nein«, antwortete er sofort und scharf. Er hielt ein wenig den Atem an, wurde leiser und murmelte: »Das verstehen Sie nicht. Die positiven Dinge, die auf Sie offenbar einen so großen Eindruck machen, sind selbstverständlich. Man kann sie nicht als Verdienst rechnen, aber es gibt immer ein paar andere Dinge, die den ganzen schönen Eindruck zunichte machen. Wo man sich fragen muß, ob man nicht versagt hat.«
Er kehrte mir sein Gesicht zu, sah mich eindringlich an. Er meinte ernst, was er sagte.
»Warum ist mir nicht gelungen, der Frau klarzumachen , daß sie vor einem Kind keine Angst haben muß? Warum habe ich das nicht geschafft?«
Er wurde leiser: »Und noch etwas. Sie kam zu mir, sie bat mich um etwas, sie bat mich um Hilfe. Ich konnte ihr nicht helfen, weil ich nicht gegen mein ärztliches Gewissen und nicht gegen das Gesetz handeln kann.«
Er behielt mich im Blick. »Verstehen Sie richtig: Ich wußte, ich war ganz sicher, daß sie es auf andere Weise versuchen würde.« Seine Stimme wurde bitter: »Und liegt nun auf Tod und Leben.«
Er machte eine Pause. »Nicht vielleicht mein Fehler?«
Er sagte es ohne Atem, kehrte sich brüsk ab und ging ins Haus.
Erst unter der Tür wandte er sich
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