Unser Doktor
um und sagte: »Kommen Sie, trinken wir einen Schnaps zusammen.«
Seine Frau kam im weißen Kittel und sah ihn nur an. Sie verstanden sich wortlos. Sie sagte: »Ich habe es mir gleich gedacht.«
»Liegt etwas vor?« fragte er zurück.
»Nein. Ich mache Tee.«
Der Doktor ging, wusch sich die Hände, während ich mich setzte.
»Geht es ihm nicht gut?« fragte mich seine Frau leise, »seine Magengeschichte?«
»Ich glaube«, antwortete ich, »er bat mich zu fahren.«
»Er würde es mir gegenüber nicht zugeben«, lächelte sie. »Daß er Sie ans Steuer gelassen hat, können Sie sich hoch anrechnen.«
»Ich finde ihn fabelhaft«, sagte ich ehrlich, »ich finde Ihren Mann großartig.«
»So«, sagte sie und sah mich lächelnd an, »ich weiß auch nicht, wie er es immer schafft. Er hat mir früher mal gesagt — und der Satz ist mir im Gedächtnis geblieben: Das Wichtigste für einen Arzt ist, Leute für sich gewinnen zu können. Er schafft es immer, wenn es ihm wichtig scheint, noch besser: wenn es für den anderen wichtig ist.«
»Für mich ist es wichtig«, erklärte ich.
»Natürlich«, sagte sie leichthin und stellte Teetassen auf den Tisch. Wahrscheinlich hatten beide längst über mich gesprochen.
»Er hat auch mich für sich eingenommen«, lachte sie, »ich bin mit ihm verheiratet. Und noch wichtiger: Ich bin ihm nicht weggelaufen.« Sie gab zu: »Ich war manchmal nahe daran.«
Eins fiel mir auf. Hier wurde offen über alles gesprochen. Es blieben keine dunklen Winkel.
»Mir kam das Land hier vor wie Ihnen. Düster wie ein Sarg, der über mir geschlossen werden sollte. Ich war jung, dreiundzwanzig, als wir hierherkamen. Das ist ein unruhiges Alter. Man hat eine Menge Vorstellungen, von denen ich nun wußte, daß sie sich nie erfüllen würden. Ich wollte meinen Koffer gar nicht auspacken. Ich heulte die halbe Nacht, aber er sagte nur: >Zuviel Weinen gibt selbst hübschen Frauen das Aussehen von
Tomaten.< Da hörte ich auf. Er sagte: »Zunächst einmal brauchst du ein Kinds und ich bekam eins.«
Sie seufzte und lächelte zugleich: »Er hatte recht. Es lenkte mich sehr ab.«
Jetzt kam der Doktor.
Er hatte seine Wickelgamaschen abgelegt. Er trug hübsche schwarze Schuhe, einen grauen Anzug, in dem er fast fremd wirkte.
Er holte den Schnaps, den er versprochen hatte.
»Fünf Jahre später«, fuhr seine Frau fort, »wollte ich ihm noch einmal weglaufen. Mit einem Mann, der Aufnahmen für einen Landwirtschaftskalender machte: ruhende Kühe, stehende Kühe, Kühe im Stall, Kühe auf der Weide. >Gnädige Frau<, sagte er, >ich weiß, wovon ich spreche: Zu viele Kühe machen melancholisch und vor der Zeit alt.< Er schenkte mir eine Fahrkarte nach Hamburg und wollte sein Erspartes mit mir teilen.«
Der Doktor schenkte ein und kicherte.
Sie lächelte. »Mein Mann trank ihn unter den Tisch, und zusammen mit dem Pastor legten sie ihn in einen Stall und fotografierten ihn für den Landwirtschaftskalender.«
»Leider haben sie es dort nicht genommen«, sagte der Doktor, »aber sie bestätigten, daß es ein besonders hübsches Bild sei. Vielleicht brächten sie es mal unter der Überschrift: Humor auf dem Lande.«
»Ich litt weiter«, erzählte die Frau des Doktors, »bis es mir einfach zu langweilig wurde. Ich vergaß es, zumal er mir ein weiteres Kind schenkte, das mich wiederum sehr ablenkte.«
Wir tranken den Schnaps, und ich fühlte mich wohl.
»Da kommt eines meiner Ablenkungsmanöver«, sagte der Doktor.
Ein Junge von zwölf Jahren war hereingekommen, storchenbeinig, mit Flachshaaren und mit einer hellen Nase, die erst gar nicht und dann unvermittelt aus dem Gesicht hervorsprang.
»Tag«, sagte er, gab mir die Hand und machte die Andeutung einer Verbeugung, »gehört Ihnen der tolle Schlitten?«
»Ja«, antwortete ich.
»Das schafft er nie«, sagte der Junge und sah seinen Vater an.
»Zeig mir mal lieber die Lateinarbeit«, sagte der Doktor, und sein Sohn erwiderte: »Immer kommst du damit. Mir hat überhaupt einer gesagt: Wer Latein lernt, verdient später nichts.«
»Nicht schlecht«, murmelte der Doktor, »in diesem Satz drückt sich hohe Weisheit aus. Aber du, mein Sohn, mußt dich noch mit minderen Weisheiten begnügen.«
Sie waren nicht albern mit ihrem Sohn, wie so viele Leute, die ständig innige Blicke an das von ihnen Gezeugte verschwenden.
Der Junge stand morgens um sechs auf. Bei schönem Wetter fuhr er mit dem Fahrrad nach Oosters , stieg dort in die Kleinbahn, um schließlich
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