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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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wollen.«
    »Nein«, sagte ich, »ich bleibe gerne hier.«
    Ich war sehr froh über sein Angebot, und wir gingen beide hinauf in mein Zimmer.
    Der Doktor steckte sich eine Zigarette an und sah mir stumm zu, während ich meinen Koffer packte.
    »Was hat sie Ihnen gesagt?« fragte er plötzlich leise.
    »Sie hat mich eingeladen«, antwortete ich.
    Er schwieg erst und sagte dann leise: »Ich hab’s mir gedacht. Ich sah den Wagen vor dem Gasthaus und dachte, sie wird ihn einladen wollen.«
    Er seufzte, atmete tief auf. »Tat sie es vor der Wirtin?«
    »Ja«, antwortete ich.
    »Die wissen alle Bescheid«, murmelte er, »auf dem Lande weiß man mehr von seinem Nachbarn als in der Stadt.«
    »Was hat sie?« fragte ich.
    Er bewegte sich unruhig, trat an das Fenster, wandte sich wieder um. »Sie wissen es alle. Sie hat Leukämie.«
    Er sah mich aufmerksam an. »Sie erschrecken«, murmelte er, »und ich habe es erwartet. Sie wissen natürlich, was Leukämie ist. Sie weiß es auch.«
    »Ist das nicht ein Todesurteil?«
    Er zögerte. »Ja«, sagte er kurz, »aber man kann viel tun, und es wird auch viel getan.«
    »Seit wann weiß sie es?«
    »Seit einem Jahr«, sagte der Doktor, »sie ist sehr intelligent. Sie bekam es heraus, es war gar nicht zu verhindern. Leute, die einen Verdacht haben, sind schlecht zu betrügen. Sie wollte sich Gewißheit verschaffen, und sie bekam sie. Sie teilte es niemandem mit, aber selbstverständlich änderte sich ihr Wesen von Grund auf.«
    »Ich kann es mir vorstellen«, sagte ich.
    »Ein solches Wissen«, fuhr der Doktor fort, »erhöht die Lebensintensität und lähmt sie zu gleicher Zeit. Ich werde nicht vergessen, wie sie bei mir in der Sprechstunde erschien und plötzlich ruhig sagte: >Ihre Versuche, Doktor, mich im unklaren zu lassen, sind rührend, aber ich weiß Bescheid.« Dabei lächelte sie mich an. Sie hatte sich plötzlich entschlossen, es mir zu sagen, weil sie wußte, sie würde lächeln können. Aber was für ein Lächeln war das!
    Man sah die Anstrengung dahinter, ein ganz leichtes Lächeln als Ergebnis einer Riesenanstrengung.«
    Der Doktor setzte sich auf das Bett. »Ihr Vater kam am nächsten Tag zu mir. >Sie weiß es, Doktor.< >Ja<, sagte ich, >sie weiß es.< Er wirkte hilflos, denn er liebte seine Tochter. Er war stolz auf sie. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Sie sagte: >Ich möchte ein Auto, Vater.< Sie bekam es. Sie bekam, was sie wollte. Sie äußerte einen Wunsch, und er erfüllte ihn ihr. Eine sehr hilflose Art natürlich, seine Liebe zu zeigen, und sie wurde sie leid.«
    Der Doktor zog die Luft ein, sah mich ungewiß an.
    »Sie hatte einen Sprung gemacht, vom harmlosen jungen Mädchen zur Frau. Sie war wie Fleisch, das jetzt im Schaufenster lag. Ihr Vater kam zu mir. Er sagte: >Doktor, Ursula treibt sich herum. Sie kommt nachts nicht nach Hause.< Ich konnte ihm nicht helfen. Sie streunte herum wie eine Katze, und ich konnte es verstehen. >Es wird Vorbeigehen<, sagte ich ihrem Vater. Es ging vorbei, denn nun passierte etwas, sie verliebte sich. In den Sohn des Ziegeleibesitzers. Sie hatten sich schon als Kinder gekannt, und sie begegneten sich wieder, und es war, als hätten sie sich nie gekannt.«
    Der Doktor lächelte abwesend.
    »Mit der Liebe ist es merkwürdig. Sie hat ihre Zeitpunkte. Sie ist nie ein Geschenk von außen. Die Zeitpunkte müssen stimmen.« Seine Stimme blieb nachdenklich, leise.
    »Was jetzt kommt, weiß ich, weil sie es mir erzählt hat. Sie liebte ihn von einer Sekunde auf die andere, so, als habe das Weltall gekreist und stehe nun still, weil da ein Mittelpunkt ist.« Er lächelte schwach. »Ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, einigermaßen gescheit, mit einer guten Begabung, die wenigen bis dahin getätigten Lebenserfahrungen zu ordnen.«
    Er sah mich an, machte eine Bewegung mit der Hand. »Sie würden nichts Besonderes an ihm finden. Ich auch nicht. Er begriff mit einem gewissen Staunen, daß Ursula ihn liebte. Es tat ihm wohl, es schmeichelte ihm. Sie war hübsch, unabhängig, die einzige Tochter eines verhältnismäßig reichen Mannes. Sie vergaß ihre nächtlichen Scheunenerlebnisse sofort, als seien sie nie gewesen. Der ungeheure Protest, der in ihr war, verlor sich an eine andere Kraft, die dieselbe Funktion ausübte: Sie hielt sie, die sich mitten im Sturz befand. Sie gab sich ihm hin in einem Augenblick, der für sie vollkommenes Glück bedeuten mußte. Dann lag sie da und sagte ihm: »Ich habe Leukämie.««
    »Das

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