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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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Zigaretten, bis ich den Doktor in den Wagen steigen sah.
    Er kam heran, öffnete die Tür und ließ mich einsteigen.
    »Waren Sie in der Unterwelt, Doktor?« fragte ich.
    »Ja«, sagte er kurz, »so kann man das nennen, wenn man sehr düstere Vorstellungen von der Unterwelt hat.«
    Er sah mich an und sagte leise: »Der Schrei, nicht wahr? So was ist schlecht auszuhalten. Dieser Schrei will auch nicht ausgehalten werden.«
    »Was war das?«
    »Eine Frau von fünfundfünfzig. Sie hat eine Trigeminus-Neuralgie. Haben Sie das Wort schon mal gehört?«
    »Ein Gesichtsnerv, glaube ich.«
    »Für einen Laien genügt’s «, sagte der Doktor lakonisch.
    »Und eine Neuralgie verursacht solche Schmerzen?«
    »Die schlimmsten, die es gibt«, murmelte der Doktor. »Solche Schmerzen zu haben, ist die Vorstufe zur Hölle.«
    »Und woher kommt so was?«
    »Die Ursachen sind unbekannt. Oder sagen wir: nicht genügend geklärt. Das hört sich besser an. Ich kenne diese Familie seit siebzehn Jahren. Sie haben den Mann gesehen?«
    »Er stand da, als habe ihn der Schrei an die Tür genagelt.«
    Der Doktor stieß ein Lachen aus. »Das haben Sie nicht schlecht ausgedrückt«, sagte er.
    »Der Mann war früher der Schmied hier. Er hatte eine kleine Schmiede, ein nettes Wohnhaus. Er war fleißig, unauffällig, hatte drei gesunde Kinder.«
    »Und jetzt wohnt er hier?« wunderte ich mich.
    »Ja«, sagte der Doktor, »da beginnt nämlich die Geschichte. Sie hat mit einer englischen Majorsfrau zu tun. Sie wissen, es gab damals Engländer in dieser Gegend. Sie hatten nicht viel zu tun und übten sich im Country-Leben. Eines Tages ritt ein Major mit seiner Frau durch das Dorf. Ein Pferd verlor ein Eisen, und sie kamen zur Schmiede. Der Mann, den Sie da heute gesehen haben, war damals beträchtlich jünger, ein großer Kerl, der genau den Vorstellungen von einem Landschmied entsprach. Der stand also halbnackt mit offener Hemdbrust in seiner düsteren Werkstatt, in der das Feuer einen zusätzlichen Effekt von roher Kraft bot.«
    Er lächelte. »Ich versuche mir nur vorzustellen, wie sich das wohl abgespielt hat, die kühle Engländerin, die da stand, das helle Hämmern, die rauchige Luft, im Zwielicht ein Mann, der einer kräftigen Urwelt entstiegen schien. Ich habe die Engländerin später selbst gesehen. Sie war schlank, rothaarig, gekleidet wie eine Dame, die sie nicht war. Sie schickte ihren Mann nach Hause und sprach nur ein paar Worte mit unserem Schmied. Er legte den Hammer weg, nahm eine Hypothek auf sein Haus und ein Doppelzimmer im Gasthaus hier. Die jungen Leute rotteten sich nachts vor dem Gasthaus zusammen, warfen Steine ans Fenster und sangen Spottlieder. Die beiden zogen ins nächste Dorf, wo sich das gleiche abspielte. Die ganze Gegend geriet in Unruhe, und sogar englische Zeitungen berichteten davon. Die Frau wurde schließlich von der Militärpolizei abgeholt. Sie mußten sie, nackt wie sie war, in eine Decke wickeln. Unser Schmied geriet in das Gelächter der Leute und begann zu trinken. Die Schmiede verkam, das Haus mußte verkauft werden. Eine Tochter bekam ein Kind von einem schottischen Sergeanten, die Söhne wurden dabei ertappt, als sie einem Bauern ein Schwein aus dem Stall holten. Sie hatten nur Hunger.«
    »Der Niedergang einer Familie also.«
    »Ja. Und vor drei Jahren bekam die Frau eine Trigeminus-Neuralgie. Ich habe alles mögliche angestellt, aber die Anfälle waren so heftig, daß selbst die stärksten Mittel ihr keine
    Linderung verschafften. Sie kam in die Universitätsklinik nach Hamburg. Dort hat man sie operiert. Man machte eine Trepanation und durchschnitt den Nerv am Kern.«
    »Das kann man also machen, den ganzen Nerv totlegen ?«
    »Ja.«
    »Ich verstehe nicht, Doktor«, sagte ich, »sie ist nicht geheilt?«
    »Nein«, antwortete der Doktor kurz, »sie hat die gleichen Anfälle wie vorher, sie spürt den gleichen Schmerz, in einem Nerv, den es nicht mehr gibt.«
    Ich starrte ihn an. Er lächelte. »Sie verstehen es nicht. Ich verstand es auch nicht, niemand verstand es.«
    »Und Ihre Erklärung, Doktor?«
    »Ich habe sie Ihnen gegeben, ich habe Ihnen die Geschichte dieser Familie erzählt.«
    »Also eine seelische Ursache — «
    »Mit echten Schmerzen, mit den gleichen fürchterlichen Schmerzen wie vorher.«
    Seine Stimme wurde ruhig, nachdenklich. »Diese Frau ist nicht intelligent. Sie hat gelitten wie ein Tier, unfähig, Empörung zu zeigen. Sie kann nichts in Worte fassen, und mit Gedanken kann sie

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