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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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ist jetzt nur in gewisser Hinsicht ein medizinischer Fall«, murmelte er, »Sie kennen den Lehrer, nicht wahr? Ein etwas unglücklicher Mann. Leute, die mit ihrem Leben nicht zufrieden sind, werden eigensinnig. Ihr Eigensinn ist die letzte schmale Lebensgrundlage. Das mag für sie selbst gut sein, für alle anderen ist es nicht gut. Seine Frau hat sich damit abgefunden. Sie flüchtete sich in die Korpulenz und benimmt sich wie ein Pekinese: Sie liegt auf Sofas herum und steht ihrem Mann an Eigensinn nicht nach. Aber die beiden haben eine Tochter, Christine, fünfzehn Jahre, die findet sich nicht damit ab.«
    Er seufzte: »Sie kennen sicher Ehen, die eine einzige Quälerei sind. Primitive Leute schlagen sich, sie wissen nicht, daß man das alles viel besser, lautloser, viel wirkungsvoller machen kann. Mit Schweigen, mit einem halben Satz, der von höflicher Gemeinheit ist. Der Mord sitzt in der Tapete. Gehen Sie mal hin, besuchen Sie ihn mal — er hat Sie doch eingeladen. Sie kommen herein und wissen alles, wenn Sie die Luft einziehen. Die ist einfach anders. Sie lastet, als bewege sie sich nicht. Das hat sich auf allen Möbeln niedergeschlagen, es liegt da wie Staub, der unausgesprochene Streit, sämtliche je ausgesprochenen Gemeinheiten.«
    »Und die Tochter?«
    »Auch Kinder atmen. Wußten Sie übrigens, wie klug Kinder sind? Sie sehen unfertig aus, sie haben glatte Gesichter. Aber der Eindruck täuscht. Die Natur gibt ihnen eine große Empfindungskraft, und sie haben eine Denkfähigkeit, die geht bis ans Ende der Welt. Ehe der Verstand denkt, träumt er, und die Träume reichen weiter als nachher der Verstand.« Kurz sagte er: »Christine ist heute aus der Schule nicht nach Hause gekommen. Sie kommt öfter nicht nach Hause. Sie steht dann morgens vor der Tür wie eine verlorene Katze und mit ziemlich struppigem Fell.«
    »Wo war sie?«
    »Das sagt sie nicht. Sie läßt sich schweigend verprügeln. Sie gibt keinen Ton von sich, obwohl ihr Vater sie halb totschlägt. Ich mußte einmal hin. Christine lag auf dem Boden, blutig geschlagen, aber ihre Augen waren weit offen und hatten einfach keinen Ausdruck. Nur den einer gewissen Befriedigung, daß sie ihren Vater in wütender Verwirrung sah. Sie schien die Klagen, die Beschimpfungen zu genießen. Aber mit den blauen Flecken am ganzen Körper stieg sie nachts aus dem Fenster und verschwand wieder.«
    »Wie sieht sie aus?«
    »Ich weiß, worauf sie hinauswollen«, sagte der Doktor, »sie ist fünfzehn. Alles ist vorhanden, womit die Natur junge Mädchen ausstatten kann. Und ich nehme an«, seufzte er, »es ist ziemlich gut vorhanden.«
    »Ein einfacher Fall, Doktor. Eine Nymphomanin.«
    »Wie schön doch so eine Bezeichnung ist«, grinste der Doktor, »eine richtige Bezeichnung zur rechten Zeit erklärt auch das Unerklärbare. Namen decken das Geheimnis zu.«
    »Ist sie es also nicht?«
    »Doch, doch, der Tatbestand gibt Ihnen recht. Sie nimmt sich die Männer, wo sie sie kriegen kann. Es spielt keine Rolle, wie jung, wie alt. Hier im Dorf wagt es niemand, obwohl jeder weiß, was mit ihr los ist.«
    »Wohin fahren wir?«
    »Durch den Wald über Billerbreek nach Wolieder Sand.«
    »Sie wissen, wo sie ist?«
    »Ich vermute es«, murmelte der Doktor und wandte sich mir zu, als wolle er durch seine Bewegung seine Worte unterstreichen. »Es hat nichts mit Moral zu tun. Machen Sie diesen Fehler nicht. Den macht ihr Vater. Er nennt sie verdorben, verkommen, ein Luder, eine Hure, den Schandfleck der Familie. Er sagt alle Dummheiten, die ihm einfallen, und das Schlimme: im Tone der moralischen Entrüstung.«
    Er ereiferte sich geradezu: »Sie ist keine Hure, denn sie nimmt kein Geld. Sie hat mit den Männern, mit denen sie sich einläßt, nicht das geringste zu tun. Sie hat nur mit sich selbst zu tun. Es ist eine Mischung von einem physischen und einem psychischen Erlebnis, das sich in ihr vollzieht, in ihr allein, das allerdings mit großer Gewalt und wahrscheinlich mit Notwendigkeit.« Er lächelt mich schwach an: »Schwer zu verstehen?«
    Der Wald öffnete sich jetzt, und wir sahen die Elbe.
    Die Wassermassen wälzten sich gelb und träge dahin. Vereinzelt standen Häuser am Ufer. Sie machten einen verlorenen Eindruck.
    Wahrscheinlich kam der Eindruck von dem Wissen, daß die Elbe die Grenze ist. Ein Hauch von Fremdheit wehte vom anderen Ufer herüber.
    Es war ganz still, aber auch das war sicher eine Empfindung, die aus mir selbst kam, so, als sei der lebendige Lärm hier

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