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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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ebenfalls zu Ende.
    »Früher gab es hier eine Fähre«, erzählte der Doktor, als habe er meine Gedanken erraten, »nun gibt es keine Verbindung mehr. Das hat aus diesem Zipfel Land ein totes Gebiet gemacht. Das Gras wuchs hier schon auf den Straßen, und in den Häusern gab es nur noch alte Leute. Die jungen sind alle weggegangen. Ein wenig hat sich die Lage verändert, seitdem die Regierung etwas tut, sie hat ein paar Fabriken hierhergebracht, und die Straßen sehen nicht mehr ganz so verloren aus.«
    Jetzt sahen wir am Ufer ein paar Schleppkähne liegen.
    Ein einzelnes Haus, das wie ein Stockzahn verloren am Uferdamm stand, wies sich als ein Gasthaus aus.
    Der Doktor hielt an, stieg aus.
    »Hier kaufen die Elbschiffer ein. Und hier sitzen sie manchmal und trinken.«
    »Christine soll hier sein?«
    »Ein Mädchen wie sie«, murmelte der Doktor, »hat eine Vorliebe für Eisenbahnschienen und für Flüsse, für Linien, die weit reichen, die irgendwohin führen, sich irgendwo in der Ferne verlieren.« Sachlich setzte er hinzu: »Außerdem hat man sie gesehen. Die Frau vom Gasthof hat telefoniert.«
    Wir gingen hinein.
    Die Wirtin hatte den Wagen gehört.
    »Nee, Doktor«, sagte sie, »das geht nun nicht, ’n Kind von fünfzehn. Aber glauben Sie, die läßt sich was sagen? Auf dem Kahn da ist sie.«
    Wir gingen über die Straße auf die Anlegestelle.
    »Kommen Sie ruhig mit«, sagte der Doktor, »Schiffer sind rüde Burschen, die sich ungern die Butter vom Brot nehmen lassen.« Wir fanden Christine in der Kabine. Sie hockte halb bekleidet auf einem Bett und sah uns ausdruckslos an. Ich mußte dem Doktor recht geben, sie hatte alles, was die Natur einem jungen Mädchen geben kann. Aber dieser Eindruck war unwichtig gegenüber einem anderen: Sie wirkte fremd, wie eine hübsche Sache. Es ging nichts von ihr aus, als wäre eine Wand aus Glas zwischen ihr und uns.
    Der Schiffer war ein grober junger Kerl, der uns am liebsten über Bord geworfen hätte.
    Der Doktor sagte leise: »Freund, das Mädchen ist fünfzehn.«
    Das machte den Schiffer ziemlich stumm.
    Christine stand auf, als sei es selbstverständlich. Sie zog sich vollständig an, stumm, mechanisch. Es war nichts an ihr ablesbar, kein Gefühl, keine Empörung, keine Scham.
    Sie stieg in den Wagen des Doktors. Sie setzte sich auf den hinteren Sitz und sagte kein Wort.
    Schweigend fuhr der Doktor los.
    Als wir durch den Wald fuhren, mußte er Licht einschalten, so dunkel war es inzwischen geworden.
    Und dann erlebte ich eine phantastische Szene, die ich nie vergessen werde.
    Ich saß vorn, neben dem Doktor. Die Fremdheit selbst saß mir im Nacken. Nur im Rückspiegel sah ich einen Teil von Christines Gesicht.
    Und langsam begann der Doktor zu reden. Es schien ihm Mühe zu machen, denn er machte große Pausen. Er sprach sehr leise und ließ keinen Blick von der Straße, die im Zwielicht des Abends alle Konturen verlor.
    »Christine«, sagte der Doktor, »ich möchte dir erzählen, wie du auf die Welt kamst.«
    Ich erinnere mich meines Schreckens, als er diese Worte sagte.
    Er tut da etwas vollkommen Unmögliches, dachte ich. Dieses Mädchen kann man nicht ansprechen. Jedes Wort ist verloren. Dieses Mädchen hat einfach keine Ohren.
    Ich sah zur Seite.
    Der Doktor wirkte konzentriert, fast ein wenig traurig. Er sprach so leise, wie es eben ging, um von dem Lärm des Wagens nicht übertönt zu werden.
    »Es war an einem Sonnabend, als dein Vater zu mir kam. Er ging nicht, er lief. Er brach wie ein Elefant ins Zimmer und schrie: >Du mußt kommen, schnell!< Er war völlig außer sich, er hatte irrsinnige Angst. Er sagte: >Die Wingst hat mich geschickt. Da ist etwas verkehrt<.
    Deinem Vater lief der Schweiß in die Augen, aus jeder Pore brach sein Schweiß, zusammen mit seiner Angst. Ich lief sofort rüber, die paar Schritte bis zu euch. Es war ganz dunkel, und dein Vater konnte seine Beine so wenig gebrauchen, daß er hinfiel. Er lag auf seinen Knien, den Kopf im Dreck und heulte: >Sie stirbt. Du wirst sehen, sie stirbt.< Ich ließ ihn, wo er lag. Ich kam rein, und die Frau Wingst kam mir gleich entgegen: >Eine Querlage, Doktor.<«
    Ich wagte kaum zu atmen.
    Ich konnte mich der Stimme des Doktors nicht entziehen. Sie war fast hypnotisch, auf einen einzigen Ton gesprochen. Hinter mir hörte ich nichts, keinen Atem, keine Bewegung. Im Rückspiegel blieb der Teil des Gesichtes, den ich sah, unberührt.
    Er ist verrückt, dachte ich.
    Der Doktor sprach weiter, ohne Dramatik.

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