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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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nicht umgehen. Da sickerte etwas in sie hinein wie Regenwasser, Jahr um Jahr. Und an einer Stelle brach der tierische Schmerz durch, in ihrem Gesicht.«
    »Das ist eine Annahme, Doktor.«
    Kurz sagte er: »Sie schreit nur, wenn ihr Mann im Hause ist. Sie schreit niemals, wenn er nicht im Hause ist.« Er fuhr langsam fort: »Aber das weiß sie nicht. Das sind Befehle, die aus dem Innern kommen, sie gehen nicht über das Gehirn. Sie selbst ist überzeugt, daß an ihren Anfällen ein Zahnarzt schuld ist, der ihr einen Zahn gezogen hat.«
    »Da versagen also auch Sie, Doktor?«
    »Es gibt Grenzen für einen Arzt. Die sind enger gezogen, als Sie wissen. Möglicherweise gibt es wirklich Medizinstudenten, die ihren Beruf gewählt haben, weil sie es schön, edel und richtig finden, Menschen zu helfen. Sie werden alle dahinterkommen, daß dieser Beruf sie in eine Fron steckt, und ich meine, was ich sage: in eine vollkommene Fron. Dieser Beruf frißt Menschen auf. Das idealistische Gefühl bleibt meistens auf der
    Strecke, wirklich auf der Strecke, auf staubigen Straßen, auf nassen Straßen, auf dunklen Straßen. Sie müssen ja fahren, ob Sie wollen oder nicht, zu jeder Tageszeit, jede Entfernung, die gewünscht wird. Sie mögen müde sein, keine Lust haben, Sie können mit sich selber zu tun haben, wie ich mit meinem Magen — es gibt kein Entrinnen aus dieser Fron. Sie hören sich Menschen an, ihre Klagen, ihr Geschwätz, Sie kriechen in ihre Häuser, in enge, dunkle, muffige, Sie lernen Zimmer kennen, die Ihnen den Atem nehmen und Ihren Geruchssinn beleidigen, die Gesichter tanzen schließlich vor Ihnen in einem Reigen, den Sie nicht mehr stoppen können. Sie werden müde, Sie werden gleichgültig, Sie hören nur noch halb hin, Sie tun Ihre Pflicht aus Disziplin und nur, damit Sie keiner belangen kann. Sie entwickeln Routine in der Schnelligkeit, mit der Sie Ihre Besuche abwickeln, Sie kriegen den schönen verlogenen Ton, der Patienten beruhigt und Anteilnahme vortäuscht, die Sie gar nicht empfinden.«
    »Hallo, Doktor«, sagte ich verblüfft.
    »Wie?« meinte er, »habe ich Sie erschreckt?«
    Langsam fuhr er fort: »Das ist eine Station, die jeder Arzt einmal durchmacht. Manche«, lächelte er, »bleiben in dieser Station stecken. Dann ist es die letzte Station. Die anderen überwinden sie.
    Wenn man das hinter sich hat, beginnt es erst. Man beginnt die Gesichter, die einen erschreckt haben, wieder zu lieben, weil es das menschliche Gesicht ist.«
    Spöttisch setzte er nach einer Weile hinzu: »Ich sage das, um Sie daran zu hindern, Fehler zu machen. Man produziert gerne Ansichten wie Denkmäler.«
    »Sie glauben, ich mache ein Denkmal aus Ihnen?«
    »Sie sagten: >Da versagen auch Sie, Doktor?< Natürlich versage ich. Ich bin manchmal hilfloser, als Sie glauben.«
    Er lächelte mich herzlich an: »Wir sind gar nicht so weit auseinander, Sie und ich.«
    Er machte wieder eine Pause, ehe er nachdenklich fortfuhr: »Viele Menschen sind offenbar darauf aus, alles ganz richtig zu machen.« Er lächelte. »Es sind meistens die Intelligenten, die die Vielzahl ihrer Möglichkeiten begreifen und darauf aus sind, die eine herauszusuchen, die unbezweifelbar richtig, logisch und vernünftig ist. Sie stellen sich ihr Leben vor als eine Kette von solchen vernünftigen Handlungen, so als gäbe es eine Ideallinie quer durch die Jahre, und es käme nur darauf an, diese Ideallinie zu erwischen.«
    Er schüttelte den Kopf: »Das menschliche Leben besteht aus Fehlern. Die Fehler sind Leben. Beten Sie zu Gott, daß es keine schlimmen Fehler sind. Außerdem«, er grinste, »die Schwächen eines Menschen sind sein Charme. Sie machen ihn zu einer Persönlichkeit.«
    Er hob die Schultern, als erheitere es ihn, mich etwas verwirrt zu sehen. »Die Weisheiten eines Landarztes. Aber er weiß genau, wo die Sonne auf- und untergeht.«
    In den nächsten drei Stunden erledigte er siebzehn Besuche. Wir fuhren dreiundvierzig Kilometer. Der Doktor sah schon etwas müde aus, und seine Lust zu reden ließ bedeutend nach.
    Wir waren in Eckede , einem kleinen Dorf im Norden seines Bezirkes.
    Der Doktor ging in das Gasthaus, um mit der Praxis zu telefonieren. »Wenn alles gut geht«, hatte er gesagt, »können wir nach Hause.«
    Er kam schnell wieder, hob die Schultern: »Es geht weiter.«
    Er sah mich an: »Können Sie noch?«
    Er wendete den Wagen, und wir fuhren auf den Staatsforst zu. Wir benutzten einen Holzweg. Der Wald war hoch, dicht und schwieg. »Das

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