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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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das Leben«, sagte der Doktor, »das ist es, was mich fasziniert hat. Sie macht die Augen größer, um mehr sehen zu können, die Ohren länger, um mehr zu hören. Alle Sinne kleben an diesem Abenteuer Leben, da ist jede Pore offen.
    Daß es ihr gelingen wird, ihre Beine wieder zu gebrauchen wie jeder andere Mensch, das ist ein Nebenergebnis.«
    So kanzelte er mich ab, ohne überheblich zu sein.
    »Ich habe den Eltern damals gesagt: Werft alle Leute raus, die anfangen, das Kind zu bejammern. Haltet den ganzen trüben Triumph von ihr fern, den manche Leute empfinden, wenn sie Kranke sehen.
    Ich habe mir den Vater richtig vorgeknöpft. >Hör zu<, habe ich ihm gesagt, >ich stelle fest, du fängst an zu saufen. Wenn du dich jetzt gehenläßt, wird einer Unglück über deine Familie bringen, nicht deine Tochter, sondern du. Wenn du ihren Anblick nicht ertragen kannst, dann geh in den Wald. Aber komm erst wieder heraus, wenn du lachen kannst.< Er sagte: >Ich kann nicht über einen Rollstuhl lachen.< Ich sagte: >Der Rollstuhl ist nur ein Übergang.<« Er seufzte. »Der Mann war mehr mein Patient als seine Tochter. Ich habe den Rollstuhl selber ausgesucht, ich brachte ihn hin. Ich sagte: >Das ist der fabelhafteste Rollstuhl, den ich je gesehen habe. Er geht wie Butter.< Ich habe die kleine Gerda hineingesetzt, ich habe ihren Geschwistern gezeigt, wie sie ihn schieben müssen. Ich habe gesagt: >Seid nicht zu vorsichtig mit so einem Rollstuhl. Das Ding hat Räder, und die halten was aus.< Wir veranstalteten gleich ein Wettrennen mit dem Rollstuhl, und Gerda hatte einen Heidenspaß daran. Sie kreischte vor Vergnügen. Ein Rollstuhl fesselt nicht, sondern befreit. Es ist einfach eine Sache, wie man so etwas ansieht. Später bekam sie ihre Krücken. Ich sagte: >Man kann sagen, es sind Krücken. Es wird einige dumme Leute geben, die von Krücken sprechen werden. Aber es sind keine, denn wir werden ihnen Namen geben. Der eine ist Max, der andere Moritz.< Das gefiel ihr sehr, sie sprach nur von Max und von Moritz.«
    Er lächelte: »Heute sagt sie nur, die >Dinger<, weil die Namen ihren Dienst getan haben. Ich mußte ihr die Krücken vertraut machen. Jetzt ist es an der Zeit, daß sie ihr wieder fremd werden.«
    Er lachte: »Es gibt viele Leute, die an Krücken gehen und die es gar nicht wissen.«
    »Ich brauche auch welche, wie?« fragte ich, um ihn zu provozieren.
    »Es gibt Leute«, grinste er, »die einfach ihre eigenen Beine nicht gebrauchen wollen, obwohl sie sie haben. Die einen gebrauchen ihre Beine nicht, die anderen nicht ihren Kopf, wieder andere nicht ihr Herz. Das sind die wahrhaften Krüppel.«
    »Denen viel schwerer zu helfen ist, nicht wahr?“
    »Aber auch die können sich ihre Stöcke im Walde abschneiden. Sie liegen überall herum.«
    Wir fuhren eine Weile schweigend, dann fragte er leise:
    »Haben Sie Ursula gesehen?«
    Ich war überrascht. »Ja«, antwortete ich, »ich fuhr über eine Brücke, und da stand sie.«
    Er seufzte: »Sie ist hinter Ihnen her. Haben Sie gehalten?«
    Ich zögerte: »Ich mochte nicht vorbeifahren.«
    »Ich verstehe«, murmelte er.
    »Wir haben ein paar Worte miteinander gewechselt. Nicht sehr viele, denn sie wollte mittags zu Hause sein. Man wartete auf sie.«
    »Ja«, sagte der Doktor, und nach einer Weile fuhr er langsam fort: »Ich glaube, Sie sollten es vermeiden, mit ihr zusammenzutreffen.«
    »Warum?«
    Er versuchte ein schwaches Lächeln. »Ihr seid beide Menschen mit gestörten Beziehungen zur Umwelt. Was soll dabei rauskommen? Es gibt eine bestimmte Sorte von Gesprächen, die es fertigbringt, die Sonne zu verdunkeln. Traurigkeit, wenn sie so massiv vorhanden ist, hat die Neigung, über die Ufer zu treten wie Hochwasser.«
    »Mag sein«, sagte ich kurz. Ich wußte, er hatte recht.
    Wir fuhren jetzt wieder auf den Bauernhof, den ich schon kannte. Der Anblick heute war etwas freundlicher, die Luft durchsetzt mit kräftigen Gerüchen, die keinen großen Abscheu mehr in mir erweckten.
    Der Doktor würde wahrscheinlich sagen: Ihre Nase fängt an, gesund zu werden.
    Der Doktor selbst verschwand wieder im Hause.
    Nach einer Weile kam er wieder heraus. An seiner Seite ging die alte Frau Muntwiler . Ich erkannte sie sofort, so gut hatte er sie beschrieben. Sie trug ein schwarzes Kleid, war flachbrüstig wie ein Besenstiel und hatte wirklich das verdorrte Gesicht eines Indianers. Die Haare waren streng zu einem Knoten gebunden.
    Sie sprach auf den Doktor ein, und er schien mit Händen und

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