Unser Doktor
Sie war fast ohne Gewicht. Sie schwieg, aber ich hörte ihr Herz schlagen. Ihre Arme lagen ganz leicht um meinen Hals.
Ich setzte sie ab. »Danke«, sagte sie leise und sah mir stumm zu, als ich die Schuhe wieder anzog.
»Es ist schön, wenn man getragen wird«, sagte sie und lachte wieder. »Ich habe mich als Kind gern tragen lassen, und jetzt finde ich es auch noch schön.«
Ich ging dann doch mit ihr nach Hause und lernte ihren Vater kennen, einen Mann zwischen fünfzig und sechzig.
Sein erster Blick war bemerkenswert. Er sah mich so prüfend an, daß es mir auffiel. Ich spürte, was er dachte: Bist du gut zu ihr? Was für Gründe hast du, meine Tochter zu besuchen?
Dann war er von großer Herzlichkeit, wenngleich eine gewisse Hilflosigkeit nicht zu übersehen war. Sie war wohl immer da. Wir tranken Kaffee, der Vater redete laut und herzlich, wollte mir seinen Betrieb zeigen, dann vergaß er es wieder. Er holte das Familienalbum, und ich sah Ursula in allen Lebenslagen. Sie saß still da und lächelte abwesend. Sie rauchte ununterbrochen, und man sah ihr Müdigkeit an.
»Es war ein sehr schöner Tag für mich«, sagte ich und stand auf.
»Sie sind immer herzlich willkommen«, erwiderte der Vater, schüttelte mir die Hand und wollte sie nicht loslassen, als müsse er mir unbedingt seine Sympathie zeigen.
»Kommen Sie gut nach Hause«, sagte Ursula kühl. Sie sah mich kaum an. Auf ihren Wangen brannten rote Flecken.
Ich fuhr ab.
Ich traf den Doktor, der gerade seine Besuchsfahrt antreten wollte.
»Doktor«, sagte ich, »gibt es wirklich kein Mittel gegen Leukämie?«
Er sah mich aufmerksam an.
»Steigen Sie ein«, sagte er. Ich stieg zu ihm in seinen Wagen. Ich war froh, daß er mich jetzt nicht allein ließ.
Der Doktor fuhr eine ganze Weile schweigend.
»Sie haben sie besucht?« fragte er mich.
»Ja.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht«, murmelte ich, »ich entschloß mich gestern nacht.«
»Seien Sie vorsichtig«, warnte er mich ernsthaft, »man kann viele Dinge aus Mitleid falsch machen. Denn sie will kein Mitleid.«
»Ich weiß«, sagte ich, »sie will Liebe.«
Er sah mich von der Seite aufmerksam an.
Ich hatte diesen Satz gesagt und wußte plötzlich, daß ich recht hatte. Er drückte die Situation vollkommen aus.
»Wenn Sie das wissen — «, murmelte der Doktor und hörte mitten im Satz auf.
»Gibt es kein Mittel gegen diese Krankheit?« wiederholte ich.
»Nein«, sagte er kurz, seufzte auf und fuhr fort: »Sie sind mir einer. Sie kommen aus Hamburg, lebenskrank, zivilisationsmüde, zeitmüde, wie so viele heute, und was tun Sie? Statt sich auszuruhen, neu denken zu lernen, wagen Sie sich an solche Erlebnisse, die Sie umbringen können.«
»Ich weiß«, sagte ich und grinste. »Aber Sie haben mich ganz schön in Schuß gebracht.«
»Ich habe nichts getan«, sagte er kurz.
»Doch«, widersprach ich, »Sie zeigen mir Menschen, Sie zeigen mir, wie sie sind, das hilft mir sehr viel.«
»Macht es Sie bescheidener?«
»Bescheidener und klüger«, antwortete ich.
»Dennoch«, sagte er leise, »Ursula ist wie ein Ertrinkender. Sie will mit der Hand greifen. Sie sucht einen Halt. Ertrinkende haben eine fürchterliche Kraft.«
Ich atmete tief auf. »Ich weiß«, sagte ich.
Wir hielten vor einem kleinen Siedlungshaus, das mit anderen Häusern in einer Reihe stand.
»Es kann hier nicht lange dauern«, sagte der Doktor und verschwand.
Er kam wirklich bald wieder heraus und lachte, schüttelte den Kopf und stieg in den Wagen.
Er drückte mir einen Packen Prospekte in die Hand.
»Tun Sie mir den Gefallen und sehen Sie sich das mal an.«
Es waren Prospekte und Gebrauchsanweisungen von Küchengeräten.
Er sah meine Verwunderung und lachte wieder herzlich.
»Hier wohnt eine sehr nette Frau. Ihr Mann fährt jeden Morgen bis fast nach Hamburg zur Arbeit. Fleißige Leute.«
»Und was soll das?« fragte ich und wies auf die Prospekte.
»Eine sehr nette Frau, etwa dreißig, die sich hier auf dem Lande etwas einsam vorkommt. Sie rief mich an, sie habe Schmerzen in der Seite.«
»Hatte sie?«
»Nicht im geringsten. Es war nichts als ein Vorwand. Sie wollte ganz etwas anderes.«
Er schien sein Vergnügen gar nicht eindämmen zu können. »Sie hat ihren Mann so lange gequält, bis er ihr eine hochmoderne Kücheneinrichtung anschaffte. Offenbar ihr Traum.«
»Dann wird sie glücklich sein.«
»Unglücklich«, sagte der Doktor, »sie wird mit dieser neumodischen Küchentechnik nicht
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