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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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Kaffee, ich weiß nicht, wie.«
    »Ja«, bestätigte die Frau grell und triumphierend.
    Der Mann sah sie düster an.
    Leise erklärte er: »Ich habe ihr gesagt: >Gib mir das Zeug.< Ich wollte es wegwerfen, aber sie hatte es versteckt.«
    Er atmete tief auf. »Doktor, ich wollte sie nicht schlagen. Ich habe sie gebeten, mir das Mittel zu geben. Ich sagte ihr: >Gib es mir<, und sie sagte: >Du kriegst es nicht.< Dann schlug ich sie.«
    Der Doktor wandte sich an die Frau.
    Bestimmt sagte er: »Wir gehen jetzt zurück, und du gibst mir das Mittel.«
    Sie starrte ihn an, aber offenbar hatte sie großen Respekt vor dem Doktor. Sie sagte nichts.
    Der Doktor griff nach dem Schnapsglas, hob es hoch, betrachtete es und kippte dann den Schnaps mit einem Zuge hinunter.
    Er grinste: »Dir schmeckt er doch nicht.«
    »Nein«, sagte der Mann demütig.
    Dann wandte er sich an seine Frau und murmelte: »Es tut mir leid, Lisa.«
    Sie wandte sich brüsk ab.
    Wenig später waren wir wieder unterwegs.
    Der Doktor sagte: »Sie trinken viel auf dem Lande. Trinker sind Kranke. Man muß behutsam mit ihnen umgehen. Viele ertragen die Welt nicht, wie sie ist. Wollen wir es ihnen übelnehmen?«
    »Nein, Doktor«, sagte ich.
    »Die Leute lieben es, Menschen zu verachten, die eigentlich nur krank sind.«
    Wir waren nicht weit gefahren. Wir hielten vor dem kleinen Dorffriedhof. Gegenüber befand sich ein Haus.
    »Ich muß da hinein«, sagte der Doktor, »da wohnt eine Frau von achtzig Jahren. Sie leidet an Herzschwäche.«
    Er nahm seine Tasche aus dem Wagen. Ich war auch ausgestiegen.
    »Wissen Sie«, erzählte der Doktor, »ich habe selten eine bescheidenere Frau gesehen. Sie ist klein wie ein Zwerg, wiegt kaum achtzig Pfund und hat ihr Leben lang nur gearbeitet. Und nur an andere gedacht. Ihr Mann starb an Faulheit. Er starb auf dem Sofa. Aber sie stirbt nicht. Es ist ihr sehr unangenehm, daß ich zu ihr komme. >Meinetwegen machen Sie so weite Wege<, sagt sie. >Das lohnt doch nicht, wegen einer so alten Frau.< Und ich sage: >Oma, du siehst den Friedhof zu oft vor dir. Du hast ihn genau vor der Nase. Und das bekommt dir nicht.< Dann kichert sie und sagt: >Ja, ich hab’s nicht weit. Da lohnt ein Sarg gar nicht für den kurzen Weg.<«
    »So offen reden die Leute darüber?«
    Der Doktor lachte.
    »Geburt und Tod sind natürliche Dinge. Die Oma lebt hier bei einer Tochter. Die hat den Sarg schon gekauft und auch das Totenhemd. Der Sarg steht auf dem Boden, und sie trocknen Bohnen darin.«
    Ich holte tief Atem.
    »Erschreckt Sie das?« lachte mich der Doktor an. »Die Tochter, selber nun über sechzig, sagte sich eines Tages: Alles wird immer teurer. Das Holz für Särge und der Stoff für Totenhemden. Also hat sie rechtzeitig beides bestellt.«
    »Und was sagt die alte Frau?«
    »Es war ihr nicht recht«, grinste der Doktor, »sie sagte: >Berta, das ist doch viel zu schade für mich.<«
    Mit diesen Worten ging der Doktor ins Haus.
    Ich sah mir in der Zwischenzeit den Dorffriedhof an. Er war von einer hohen Mauer umschlossen und ziemlich klein. Er wirkte abgeschlossen wie ein Zimmer. Ich las die Aufschriften und Namen wie Schilder an Wohnungstüren in einem fremden Haus. Aber auf jedem Friedhof bleibt der Besucher über dem Boden.
    Die Vorstellung der Toten unter dem Boden bewirkt nichts. Nicht viel jedenfalls.
    Ich ging langsam durch die Reihen, bis ich am Ende der Mauer ein verwahrlostes Grab fand. Es hatte keine Einfassung und zeigte auch keine Spuren von Bepflanzung. Ein einfaches Holzschild wies nur einen Namen auf: Karl Friedrich Baron von und zu Reitzenstein -Quedlinburg.
    Ich betrachtete das verwitterte Holzschild eine Weile, drehte mich dann um und rauchte eine Zigarette.
    Die Luft war warm, es summte von Insekten. Schmetterlinge fielen mir auf, tanzende, leuchtende Punkte über Gräbern.
    Der Doktor kam den Friedhofsweg herauf.
    »Fertig?« fragte ich und suchte, wohin ich meine halbgerauchte Zigarette werfen konnte.
    »Ja«, antwortete der Doktor und sah auf das verwahrloste Grab in der Ecke.
    »Hübscher Name«, sagte ich.
    »Ich habe den Mann gekannt«, sagte er kurz.
    »Ein Patientenfriedhof?« machte ich den Versuch eines sicher nicht sehr guten Scherzes.
    »Nein«, der Doktor schüttelte den Kopf, »den haben andere unter die Erde gebracht.«
    Wir gingen hinaus, zum Wagen zurück.
    Wir fuhren los, und er wiederholte: »Die Leute lieben es, Menschen zu verachten, die eigentlich nur krank sind.«
    »Sie meinen den Baron?«
    »Ja. Er

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