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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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Frauen, die ihn anziehend fanden. Es hat sie einfach gereizt, ihn >zurückzuholen<.«
    Der Doktor lächelte abwesend.
    »Man hat den Baron schnell vergessen. Man verkaufte seinen Wagen und bezahlte die Beerdigung, an der kein Mensch teilnahm. Nur meine Frau, ich und der Pastor.«
    Seine Erzählung war übrigens unterbrochen durch weitere Krankenbesuche.
    Gegen fünf Uhr hielten wir wieder in der Arbeitersiedlung, und ich erklärte einer netten jungen Frau die technischen Geheimnisse ihrer Kücheneinrichtung.
    Sie dankte mir überschwenglich, entschuldigte sich laufend, bot mir Bier an, Kekse, alles zu gleicher Zeit, und richtete zwischendurch immer wieder staunend und fasziniert ihre Blicke auf die chromglänzende Küche.
    Der Doktor grinste: »So unterschiedlich sind die Dinge, an die Menschen ihr Herz verlieren.«
    Wir fuhren über Ingersbusch zurück.
    »Jetzt fahren wir zu Ursula«, sagte der Doktor und fuhr fort, als er meinen etwas erschrockenen Blick sah, »nicht Ihre Ursula. Sie erinnern sich des taubstummen Mädchens? Sie heißt auch Ursula.«
    Es dauerte nicht lange und wir hielten wieder vor dem Sägewerk. Es herrschte der übliche höllische Lärm der sich durch Holz fressenden Sägeblätter.
    Nicht weit entfernt in einer Wiese sahen wir das junge Mädchen. Es hatte eine Staffelei aufgestellt und malte. Ursula wandte sich nicht um. Sie hörte uns nicht, und sie hörte auch den Lärm nicht.
    »Wissen Sie, Doktor«, sagte ich, »nicht zu hören muß manchmal wirklich eine Wohltat sein.«
    »Man könnte sie darum beneiden, nicht wahr?« lächelte der Doktor. Wir gingen in die Wiese hinein. Erst als unser Schatten sichtbar war, wandte sich das junge Mädchen um. Ich hatte vergessen, wie hübsch sie war, und es überwältigte mich wieder. Sie lächelte, sah uns aus den Augenecken an und stand gleich auf. Es war warm in der Sonne, und sie trug Shorts.
    Sie war, so wie sie da stand, eine wahre Kostbarkeit.
    Der Doktor sagte guten Tag, lobte ihr Bild, fand es sehr hübsch.
    Es war auch sehr hübsch, von einer merkwürdigen Intensität der Farben und Formen. Der Doktor beging den Fehler nicht, den die meisten Menschen einem Taubstummen gegenüber begehen, zu sprechen, ohne ihn anzusehen.
    Er sprach deutlich und sah ihr genau in die Augen.
    »Ich habe dir was mitgebracht«, sagte er und holte einen Brief aus der Tasche. Sie nahm ihn und las.
    Der Doktor wandte sich mir zu: »Ich vermittle ihr gerade eine Brieffreundschaft. Ich habe die Anschrift über eine Zeitschrift für Gehörlose bekommen. Es handelt sich um einen jungen Mann, zweiundzwanzig, er hat dieselbe Sache.«
    Das Mädchen las den Brief und sah dann den Doktor an.
    Sie hob die Schultern, lächelte unsicher.
    »Er schreibt doch sehr nett«, sagte der Doktor und untersuchte noch einmal den Briefumschlag, »du hast das Foto übersehen.«
    Er reichte ihr das Foto eines jungen Mannes.
    Das junge Mädchen nahm es in die Hand, betrachtete es lange. Dann sprach sie in der erschreckenden, tonlos-zischenden Weise: »Hat er einen Leberfleck auf der Nase?«
    »Wirklich?« fragte der Doktor und besah das Bild. »Tatsächlich«, meinte er. »Aber das kann man sicher beseitigen. Sonst finde ich die Nase recht hübsch.«
    Sie lachte und fragte, ob sie den Brief behalten dürfte.
    »Natürlich. Wenn du Lust hast, schreibst du ihm zurück.«
    Sie nickte und lächelte den Doktor an.
    Sie war richtig kokett, und ihr lächelnder Blick war schwer auszuhalten.
    »Sind Sie Heiratsvermittler?« zischte sie.
    »Ah, nein«, wand sich der Doktor etwas, »ich dachte mir nur, daß...« Er streckte etwas hilflos die Hände von sich. Das Mädchen genoß sichtlich seine Verwirrung.
    »Danke«, sagte sie, bewegte sich federleicht gegen den Doktor und küßte ihn.
    »Herr im Himmel«, entfuhr es dem Doktor. Ich lachte herzlich, denn er hatte sichtlich etwas seine Fassung verloren. Er lachte schließlich mit. »Heb dir das auf für jüngere Leute«, sagte er.
    Sie sah aus, als wolle sie ihren Überfall wiederholen, und der Doktor ging vorsichtshalber etwas zurück.
    »Wir müssen gehen«, sagte er, »ich wollte dir das nur vorbeibringen.«
    Sie lachte wieder, streckte uns die Hand hin und sah uns nach.
    Es war einfach überwältigend, wie sie in der Wiese stand.
    »Doktor«, murmelte ich, »die Natur versucht gutzumachen, was sie auf der anderen Seite gesündigt hat.«
    »Ja«, sagte der Doktor, »und das Leben hat eine Möglichkeit weniger, sie zu verderben. Der Lärm verschlingt sie

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