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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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wohnte der Baron. Die Sielmanns hatten einen Sohn von dreiundzwanzig Jahren. Ein Pferd hatte ihn in den Bauch getreten. Er lag da und hatte große Schmerzen. Der Baron empfing mich an der Tür. So bleich hatte ich ihn nie gesehen, er war von Angst geradezu geschüttelt. Er führte mich zu dem Verletzten und beobachtete jede Phase der Untersuchung mit angehaltenem Atem. Kein Mann hätte zärtlicher um seine Frau besorgt sein können als der Baron um diesen jungen Mann.«
    »Aha«, sagte ich.
    Der Doktor sah mich skeptisch an. »Das war sein Geheimnis. Dieser junge Mann da. Ich mußte ihn ins Krankenhaus überführen lassen zu einer genaueren Untersuchung. Der Baron war bejammernswert. >Wird er sterben?< fragte er. Ich sagte: >Nein, er wird nicht sterben, ich glaube es nicht.« Aber er war nicht zu beruhigen. Auf seinem Gut habe er mal einen Knecht auf dieselbe Weise verloren. Er sah so hilflos und verloren aus, seine Liebe war so groß, so endgültig, daß es mich erschreckte. Als der Krankenwagen kam, wich der Baron nicht von der Seite des jungen Mannes. Er wollte unbedingt mitfahren. >Baron<, sagte ich, >tun Sie das nicht. Seien Sie vorsichtig. Die Krankenwärter wundern sich schon.« Er sah mich an, als begriffe er mich nicht. Ich konnte ihn nicht zurückhalten. Er stieg in den Wagen, hielt die Hand des jungen Mannes und sprach ihm Mut zu.«
    Wieder machte der Doktor eine Pause. »Wirkliche Liebe kennt keine Vorsicht.«
    »Wirkliche Liebe?« fragte ich.
    »Sie müssen sie genauso nehmen wie jede andere. Sie hat die gleiche Intensität, vielleicht eine höhere«, sagte der Doktor spröde. »Jetzt begann das Verhängnis seinen Lauf zu nehmen. Man flüsterte, man sprach darüber. Die Krankenwärter erzählten, was sie gesehen hatten. Es blieb nicht verborgen, daß der Baron seinen Beruf vernachlässigte, er war ihm vollkommen gleichgültig geworden. Er fuhr jeden Tag hinüber ins Krankenhaus und blieb stundenlang. Wissen Sie, was das bedeutete, die Entdeckung dieses Geheimnisses?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Auf dem Lande leben gesunde Leute. Gesund, was das sogenannte Volksempfinden angeht. In der Großstadt ist man nachsichtiger, toleranter, auf dem Lande nicht. Dort empört man sich, dort verachtet man alles, was man nicht kennt. Man übersieht nicht großzügig, sondern gibt der Verachtung vollen Raum. Wissen Sie, wie so was aussieht?«
    »Nein«, sagte ich wieder.
    »Möge es Ihnen nie widerfahren«, murmelte der Doktor, »es ist so schlimm wie die Inquisition. Jagt ihn, ein Mensch! So ist das hier. Die Bauern sahen den Baron nicht mehr an, sie lachten hinter ihm her. Er verlor von einer Sekunde auf die andere alle Sympathien. Die Frauen mochten die Sache weniger tragisch nehmen, aber sie wagten es nicht zu zeigen. Der Baron traf auf verschlossene Gesichter und, schlimmer, auf verschlossene Türen. Er kam zu uns. Er sah etwas verwirrt aus, schüchterner als sonst, und fragte, ehe er hereinkam: >Wollt ihr mich auch nicht mehr?< Er saß auf dem Sofa und hatte allen Glanz verloren. Da saß ein armer geschlagener Mensch, der hilflos seinen Blick hob und uns ansah. Der Vater des jungen Mannes hatte ihn vor die Tür gesetzt. >Doktor<, sagte der Baron, >ich habe meine Koffer im Wagen, und ich weiß nicht, wohin.<
    >Das ist ganz einfach«, sagte ich, >fahren Sie nach Hamburg. Fangen Sie dort neu an. Oder gehen Sie nach Dithmarschen rauf, wenn Sie unbedingt auf dem Lande bleiben wollen. Nur hier müssen Sie weg.<«
    »Ging er weg?«
    »Nein«, sagte der Doktor langsam, »er konnte es nicht. Er ging ins Gasthaus und nahm dort ein Zimmer. Vergessen Sie nicht, daß er liebte. Das Gasthaus war abends überfüllt. Die Tische waren besetzt, alle warteten nur darauf, daß sie den Baron sahen. Die Bauern betranken sich und lachten. Sie riefen ihm obszöne Bemerkungen zu, die er mit gesenktem Kopf einsteckte. Eben diese Demut machte seine Peiniger immer übermütiger. Es war ein Kesseltreiben, das nicht aufhören wollte. Der Pastor wetterte von der Kanzel herunter auf die Gemeinde ein, mit dem Ergebnis, daß die Bauern sich anzwinkerten: >Das ist wohl auch so einer.< Ich selbst habe mir einige vorgeknöpft und ihnen ins Gewissen geredet. Es nützte nichts. Eines Morgens holten sie den Baron aus dem Baggersee zwischen Oosters und Kuhlerkamp .«
    Ich steckte mir eine Zigarette an.
    »Geben Sie mir auch eine«, sagte der Doktor.
    »Und der junge Mann?« fragte ich.
    »Der ist heute verheiratet und hat ein Kind. Es gab eine Menge junger

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