Unser Doktor
glücklich, daß man es sah und daß es Neid erweckte, Neid und Sehnsucht, es ihm gleichzutun.
»Wissen Sie, wie Sie aussehen?« fragte mich der Doktor am nächsten Morgen und setzte seinen Satz gleich fort: »Als wollten Sie hinüber nach Voerdecke .«
»Ich weiß es noch nicht«, murmelte ich, aber er hatte mich ertappt, ich dachte wirklich daran, Ursula zu besuchen.
Ich fuhr langsam die Landstraße nach Voerdecke hinunter. War es richtig, was ich tat? Ich stand vor einer großen Entscheidung. Es war eine Entscheidung, die Frau aufzusuchen, die in ihren letzten Sommer ging.
Ich schaltete schließlich alle Gedanken ab und hielt vor dem Wohnhaus neben der Zementfabrik.
»Herrgott«, dachte ich, »sie ist ein nettes Mädchen, ich kann gut mit ihr reden. Was soll es?«
Ursula kam in die Halle, stockte, als sie mich sah. Sie blieb sekundenlang stehen, als denke sie nach und als strenge dieses Nachdenken sie ungewöhnlich an.
Ich hatte mich nicht angemeldet, sie wußte nicht, daß ich kam, aber sie war wieder hervorragend angezogen. Sie trug ein Kostüm eines Ersten Schneiders, ein ganz blasses Lila. Am Revers eine Brillantbrosche.
Schmerzhaft kam mir ein Gedanke: Dies ist ein Mensch, von dem fast alles ungebraucht bleiben wird.
Sie lächelte. Sie kam leichtfüßig auf mich zu und streckte mir ihre Hand hin.
»Sie kommen meinetwegen?« fragte sie fast ungläubig.
»Ich will keinen Zement kaufen«, sagte ich, »hoffentlich haben Sie Zeit?«
»Zeit«, wiederholte sie, und das Wort schwebte im Raum wie etwas ganz Unwirkliches.
»Ich habe Zeit, natürlich«, sagte sie sachlich. Sie verstand sich zu beherrschen. Dafür allerdings brauchte sie ihre Kraft. Sie führte mich in ihr Zimmer.
»Nehmen Sie Platz«, sagte sie, »mögen Sie Tee?“
»Ja, gerne.«
Sie ging hinaus, und ich betrachtete das Zimmer. Es bewies ihren Geschmack, helle Möbel, passende Farben in den Abstufungen. An den Wänden ein Chagall, jenes Blatt, das ich besonders liebte: ein grüner Dschungel von Linien, ein mit einem Strich hingeworfenes weibliches Profil und schwebend ein roter Fleck, ein Mann, in jenem kindhaft-einfachen Strich, der eine Auflösung in eine Idee bedeutet.
Der Vater Ursulas war hereingekommen. »Nett, daß Sie gekommen sind«, sagte er herzlich und gab mir die Hand, schüttelte sie kräftig. Er warf einen vorsichtigen Blick zurück, und als er sich vergewissert hatte, daß wir allein waren, wurde sein Gesicht düster und zugleich aufmerksam. Er senkte die Stimme: »Hören Sie, ich muß Ihnen etwas sagen —«, begann er unsicher, »etwas, was Sie vielleicht nicht wissen — «
»Ich weiß«, sagte ich kurz.
Er starrte mich an. »Sie wissen — «, fragte er und hob die Stimme.
»Sie wollten von ihrer Krankheit sprechen.«
»Ja«, murmelte er betroffen und sah mich an. Der Mann tat mir leid. Er machte eine schreckliche Zeit durch, die er nicht ohne Schaden überstehen würde. Das wußte ich.
»Sie wissen das also — «, murmelte er wieder unsicher und zeigte seine Verstörung ganz offen.
Ursula kam mit Teegeschirr herein.
»Soll ich dir nicht helfen?« fragte er.
»Ich mache es gerne selber«, sagte Ursula leichthin und sah ihren Vater grübelnd an. Dann ging ihr Blick zu mir.
»Ja«, raffte sich der Vater auf, »ich muß runter. Vielleicht sehen wir uns noch.«
Er verließ das Zimmer wie auf einer Flucht.
Ursula schwieg. Sie setzte die beiden hauchdünnen Teetassen auf den Tisch und schenkte dann ein.
Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und sah mich an.
Es war ein ganz offener Blick, in aller Demut offen und furchtlos. »Wir haben neulich einen sehr schönen Spaziergang gemacht«, sagte sie und lächelte, »wenigstens mir hat er Spaß gemacht.«
»Mir auch. Es ist ziemlich lange her, daß ich Waldspaziergänge machte.«
»Es muß eine Anstrengung für Sie gewesen sein.«
»Nein«, sagte ich, »es hat mir wohlgetan.«
»Man kennt sich zu wenig«, lächelte sie, »um zu wissen, was da auf das Konto der Höflichkeit geht.« Sie setzte hinzu: »Was überhaupt auf das Konto der Höflichkeit geht.«
»Nichts«, erwiderte ich.
Sie lächelte stärker, nahm eine Zigarette in die Hand, spielte mit ihr.
»Man täuscht sich so oft in Menschen, weil man zu wenig von ihnen weiß. Man begnügt sich mit dem wenigen, weil sich aus wenigem sehr gut ein Bild zusammensetzen läßt — meist ein falsches. Aber fast alle Menschen haben falsche Vorstellungen, selbst von denen, mit denen sie ein Leben lang
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