Unser Doktor
nicht und nicht Worte, mit denen man soviel anrichten kann.«
Wir fuhren ab, und das Mädchen winkte uns fröhlich nach.
»Das ist das Sonderbare an meinem Beruf«, sagte der Doktor, »er bringt mich mit so unterschiedlichen Dingen zusammen, mit traurigen und mit fröhlichen.«
»Ja«, gab ich ihm recht, »die Geschichte Ihres Barons war recht traurig.«
Er sah mich an, sehr nachdenklich. »Sagen wir so«, verbesserte er, »sie ging traurig aus. Aber auch sie gab ein Beispiel von unerhörter Lebenskraft und von menschlicher Liebesfähigkeit, die aus dem Rahmen fällt. Die Natur selbst hatte den Baron auf einen Platz gestellt, von dem aus man schlecht kämpfen kann. Er hatte von vornherein keine Chance, keine sehr große. Aber er kämpfte trotzdem, das ist das Großartige an ihm, und deshalb verdient er Blumen auf seinem Grab. Mit diesem Mädchen ist das anders. Sie hat viel mehr Chancen. Sie ist einfach wie eine Glocke, die auf Dur gestimmt ist. Ich höre das direkt läuten«, lächelte er und setzte mit Selbstverspottung hinzu: »Verzeihen Sie diesen dichterischen Vergleich.«
Es schien überhaupt, als sollte dieser Tag fröhlich enden.
Als wir nach Hause kamen, war Christine da, die Tochter des Lehrers.
Die Frau des Doktors empfing uns an der Tür.
»Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll«, sagte sie, »sie ist schon drei Stunden da. Sie sitzt herum und besieht im Augenblick dein altes Briefmarkenalbum.«
»So«, sagte der Doktor.
»Ich habe Lust, sie nach Hause zu schicken. Sie stört mich wirklich etwas.«
»Meine Liebe«, sagte der Doktor sanft, »der größte Fehler bei Menschen ist, daß sie sich nicht in andere hineinversetzen können. Siehst du nicht, daß dieses Mädchen gerade einen Kampf kämpft?«
Seine Frau sah ihn groß an.
»Schick sie raus«, sagte der Doktor, »und du wirst sehen, daß wir sie wieder suchen müssen. Sie weiß das, sie hat Angst davor und kommt her.«
»Du meinst — «, sagte die Frau leise.
Wir betraten das Wohnzimmer, und der Doktor verwandelte seine Stimme ins Helle, Fröhliche.
»Hallo, Christine«, sagte er, »nett, daß du da bist.«
Er gab ihr die Hand, zog sie flüchtig an sich. Er schien sich aufrichtig zu freuen, daß das Mädchen da war. Er setzte sich gleich neben sie.
»Du besiehst meine Briefmarken? Ach, du liebe Zeit. Vor Jahren habe ich damit mal angefangen, aber dann einfach keine Zeit mehr gehabt.«
Christine sah ein wenig blaß aus, sie hatte aufmerksame dunkle Augen, ihre Bewegungen waren ein wenig träge. Aber der Doktor benahm sich so unbefangen, so fröhlich, so herzlich, daß es — ja, wie war es? Wie eine Spritze, die er ihr gab und auf die sie gleich reagierte.
Lebhaft sagte sie, daß sie die Marken sehr hübsch fände, und er habe doch recht viele.
Ich wußte, daß der Doktor noch viel zu tun hatte, aber er saß neben Christine, als habe er viel Zeit, als gäbe es im Augenblick nichts Schöneres, als mit ihr zu reden.
Ich kannte den Doktor inzwischen so gut, daß mir seine Absicht auffiel, irgendeine Absicht in seinem Fröhlichsein.
»Besorgen Sie uns einen Schnaps«, sagte der Doktor, und ich holte die Flasche.
Der Unterschied zwischen dem taubstummen Mädchen und Christine fiel mir geradezu bedrückend auf. Christine war zwei Jahre jünger. Sie war auch hübsch, aber in einer ganz anderen Weise. Das taubstumme Mädchen leuchtete in Schönheit, die etwas von der Kraft des Blühenden besaß, des für sich allein Blühenden. Das Blühende als ein Schauspiel, das keine Zuschauer benötigt. Bei Christine hatte die Schönheit Bezug auf die Umwelt. Sie war ausgerichtet wie eine Antenne. Sie war eingespannt zwischen Wunsch und Wollen. Es war intensiv spürbar, der Körper, der aggressiv sein wollte.
Das alles wußte der Doktor sofort, als er hereinkam. Deshalb seine forcierte Fröhlichkeit, mit der er ein Klima schaffte, in dem Christines Körper die Aggression verlieren sollte.
Ich trank den Schnaps und dachte: Das geschieht alles ohne Krankenschein. Das ist eine Behandlung, zu der er sich verpflichtet fühlt, aber sie findet in keiner Vierteljahresabrechnung ihren Niederschlag.
»Wollen Sie allein trinken?« fragte der Doktor, »geben Sie uns auch.«
Er trank und schob auch Christine ein halbgefülltes Glas zu, stieß mit ihr an.
»Prost, Christine«, sagte er.
Christine fühlte sich den Erwachsenen zugerechnet, das war wohl die Absicht des Doktors.
Sie wurde lebhaft, lachte über die Späße des Doktors, eine kindhafte
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