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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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Unbefangenheit kehrte zurück.
    Gegen zehn Uhr abends kam überraschend der Lehrer herein.
    Er war wütend, aufgeregt und besorgt. Er wollte gleich über seine Tochter mit Worten herfallen, aber der Doktor schnitt ihm schnell die Rede ab. »Setz dich«, sagte er, »entschuldige, daß ich Christine hier festhalte, aber wir haben gerade hübsche Gespräche am Wickel.«
    Der Lehrer setzte sich, schnell besänftigt und erleichtert.
    Und ich dachte: Er versteht mit ihnen umzugehen.
    Mit jedem einzelnen. Und er weiß genau, wie.
    Er zog auch den Lehrer ins Gespräch, lenkte es geschickt auf Themen, bei denen sich der Lehrer stark fühlte, so daß er schließlich voller Wohlbehagen seinen Kragen öffnete und von seiner Studentenzeit erzählte. Ich bewunderte die Geschicklichkeit des Doktors, der den Lehrer genau so lange reden ließ, daß es ihm guttat und uns andere nicht langweilte. Er war wie ein Puppenspieler, der ständig an den Fäden zog und jeden einmal auftreten ließ. Es wurde ein unvermutet schöner Abend, erfüllt von Gelächter, von Abwechslung. Es schlug zwölf, als der Lehrer und Christine gingen. Beide verabschiedeten sich heiter und gelöst, und ich sah, wie der Lehrer seiner Tochter in den Mantel half.
    Ich atmete auf.
    »Doktor«, sagte ich, »Sie sind ein raffinierter Mensch. Sie haben eine Tragödie in eine Komödie abgebogen, und Sie sollen wissen, daß ich das für eine große Leistung halte.«
    Er lachte und seufzte zugleich. »Leider muß ich mir jetzt noch zwei Nachtstunden um die Ohren schlagen.«
    »Ich helfe dir«, sagte seine Frau und küßte ihren Mann bewundernd. Leicht setzte sie hinzu: »Muß mir doch tatsächlich unser Gast erst wieder klarmachen, was für ein Goldstück du bist.«
    »Halt den Mund, Alte«, sagte der Doktor gutgelaunt.
    Seit fast zehn Tagen war ich nun im Hause des Doktors. Ich gebe zu, ich war in einer üblen Verfassung aus Hamburg gekommen. Auf eine merkwürdige Weise war mir der Spaß am Leben abhanden gekommen, unversehens, ganz ohne Dramatik, ich hatte es eines Tages festgestellt. An absoluter Lustlosigkeit. Diesen Zustand hatte der Doktor gesehen, auf den ersten Blick, ohne viel zu fragen. Und seitdem war er auf seine indirekte
    Weise bemüht, mir zu helfen. Er vermied jedes direkte Gespräch, aber es war ihm darum zu tun, mir an lauter Beispielen zu zeigen, was ich daraus an Positivem für mich verwenden konnte. Ich war hergekommen und hatte das flache Land grauenhaft gefunden. Er nahm mich auf jeder Besuchsfahrt mit und füllte dieses leere Land mit Menschen. Er zeigte mir, daß es darüber hinaus auch eine menschliche Landschaft gibt, die aufregend und voller Kämpfe ist. Die gewonnen und verloren werden.
    Er nahm mir das Gefühl, daß ich mit meinen Schwierigkeiten allein stehe. Er bewies mir, daß alle Menschen in aller Welt Kämpfe zu bestehen haben und daß eine unerhörte Lebenskraft ständig verbrennt.
    Wir alle — das wollte er mir wohl zeigen — sind dem Gesetz des Verbrennens unterworfen, der Abnutzung, der Erschöpfung. Er wollte mir sagen, daß niemand aufhören kann, bis alle Kraft verbrannt ist. Daß auch der letzte Tropfen Öl noch verbrannt werden will.
    Er wollte mir sagen, daß in mir noch genügend Kraft ist, das Feuer in Gang zu halten.
    Er hat natürlich recht.
    Ich habe noch genügend Kraft, und das zeigte er mir.
    Er machte mich in zehn Tagen wieder halbwegs glücklich.
    »Wir alle wollen kaufen und nichts ausgeben«, hatte er einmal gesagt. »Manche Leute sitzen wie Geizhälse auf ihrer Lebenskraft und geben nichts aus. Sie löschen ihr eigenes Feuer und wundern sich, wenn es dunkel wird. Sie ersticken an sich selber.«
    Nun, der Doktor opferte ständig von seiner Lebenskraft, das war nicht zu bezweifeln. Er schonte sich nicht. Er hatte weniger Schlaf zur Verfügung als jeder andere. Es gab für ihn keine Vierzig-Stunden-Woche. Und niemand sagte: Sonntags gehört Vati uns. Er kämpft seinen Kampf allein und — es macht ihn glücklich. Wobei nun über Glück nachzudenken wäre. Über die völlig verschiedenen Vorstellungen, die es darüber gibt. Über die verächtlichste zuerst, daß Glück mit äußeren Dingen zu tun hat, mit Geld, mit Autos, mit Häusern, mit Reisen ans Meer. Glück ist: die Erfüllung der Aufgabe, die jedem gestellt ist, nach seinen Fähigkeiten, nach seiner Kraft — leben, ohne daß etwas ungebraucht bleibt. Das Ungebrauchte setzt sich ab wie Gift.
    Der Doktor brauchte alles von sich, und das machte ihn glücklich. So

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