Unser Doktor
kann keine Stunde versäumen.«
»Ich weiß«, murmelte der Doktor.
»Sie werden feststellen, daß ich betrunken bin, und sie melden es.«
»Das ist mir egal«, sagte der Doktor, der nun böse wurde.
»Mach, daß du rauskommst«, schrie der Mann, und der Schweiß stand immer dicker auf seiner Stirn.
Der Doktor packte seine Tasche und verließ grußlos das Zimmer.
Die Frau lief mit hinaus und versuchte, ihren Mann zu entschuldigen.
»Laß nur, Maria«, sagte der Doktor, »sieh zu, daß er ins Krankenhaus kommt. Er ist betrunken. Morgen wird er vernünftiger sein. Dann kommt er und entschuldigt sich.«
Der Doktor stieg wieder ein.
»Der Mann ist eine harte Nuß«, sagte ich.
Der Doktor schaltete den Motor ein und riß an den Gängen. »Das sind die Schlimmsten«, murmelte er, »diejenigen, für die der Arzt so etwas wie ein Handwerker ist.« Er lachte böse. »Manchmal möchte ich, ich wäre es. Ich würde höher bezahlt und hätte ein bequemeres Leben. Dafür würde eine Gewerkschaft sorgen.« Der Doktor war in einer schlimmen Stimmung.
»Mit welchem Recht verlangt man eigentlich, daß wir Ärzte anders sind, sozusagen öffentliches Eigentum? Alle Berufsstände sind von einem herrlichen Egoismus. Nur wir nicht. Wir dürfen nicht. Unser hippokratischer Eid. Wir Helfer der Schwachen und Kranken. Wir dürfen nicht an uns denken. Von uns verlangt man Idealismus. Wehe, von uns käme einer mit der Vierzig-Stunden-Woche. Und sie behandeln uns manchmal wie Schuhputzer.«
Er schwieg verdrossen.
Der Fall ging ihm nahe, denn er schwieg sehr lange. Er sah müde aus, wie einer, der sein Tagewerk ununterbrochen und ohne zu fragen vollbringt und dem alle Kraft plötzlich in Müdigkeit umschlägt.
Es war ein besonders schlimmer Tag. Der Doktor machte vierzehn Besuche.
Ich sah ihn wieder zornig, als wir einen langen Waldweg entlang auf einen entlegenen Hof gefahren waren und niemand da war.
Man hatte den Doktor gerufen, aber niemand war zu Hause.
Er fand den Mann, den er suchte, auf dem Felde. Er ging hinter seinen Pferden her und pflügte.
»Tut mir leid, Doktor«, sagte der Bauer, »das Wetter war zu schön, und die Schmerzen ließen plötzlich nach.«
»Warum hast du nicht zurückgerufen? Ich komme deinetwegen sieben Kilometer.«
Der Bauer kratzte sich am Kopf, hob die Schultern. »Ich weiß nicht«, sagte er.
Er hatte hellblaue Augen und sah damit den Doktor hilflos an. »Hier tut’s weh«, sagte er und faßte an seine linke Brustseite. »Aber jetzt nicht mehr.«
»Ich kann dich hier nicht untersuchen«, sagte der Doktor kurz und wandte sich um.
Wir liefen durch die aufgebrochene frische Erde.
»Was sagen Sie dazu«, murmelte der Doktor und zwang sich zur Ruhe. »Ich darf nicht den Fehler machen, zuviel zu verlangen. Es sind einfache Leute. Die haben Gedanken, die wie Züge ohne Anschluß sind. Sie begreifen es nicht.«
Er versank in Grübeln.
»Vielleicht erwische ich ihn morgen zu Hause«, sagte er leise, »wenn er Schmerzen in der Brust hat — das ist eine Familie, in der es Tb gegeben hat. Sie sind anfällig.«
Er lächelte mich unsicher an. »So ist das nun: Da regt man sich auf und ist im nächsten Augenblick dabei, die zu entschuldigen, die einem soviel Ärger machen.«
Wir fuhren weiter.
Da war noch eine alte Frau, nach der er sehen mußte.
Eine Frau, nur Haut und Gerippe. Hoch in den Siebzigern. Eine Haut wie gewelltes Pergament. Aber mit lebendigen dunklen Augen. Fast wie die Augen eines jungen Mädchens in einem ganz alten Körper. Ergebenheit fiel dem Doktor auf. Ergebenheit in ein unerklärbares Schicksal, das schweigend hingenommen werden muß.
Nachher erklärte mir der Doktor: »Sie hat Darmkrebs. Sie will in kein Krankenhaus. Sie kann den Urin nicht mehr halten, und sie schämt sich.«
Er setzte hinzu: »Natürlich kann ihr kein Krankenhaus mehr helfen.«
»Sie schämt sich?« fragte ich.
»Ja«, murmelte der Doktor, »es ist seltsam zu sehen, welche Charaktereigenschaften am zähesten bleiben. Bei dieser alten Frau blieb die Scham als letztes, wahrscheinlich als allerletztes. Und in der Scham liegt Demut.«
Trocken setzte er hinzu: »Es sind genau die Eigenschaften, die Menschen am schnellsten verlieren.«
Dieser Tag war für den Doktor schwer, aber das Schwerste hatte er noch vor sich.
Wir kamen nach Hause, und die Frau des Doktors kam uns gleich entgegen. Sie sprach ein paar Worte mit ihrem Mann, der sich dann hilflos zu mir umwandte.
»Der Mann mit dem Trecker«, sagte er
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