Unser Doktor
leise, »der ist tot. Er hat den Krankenwagen zurückgeschickt. Er sagte, er fühle sich besser. Er fuhr nicht ins Krankenhaus. Er setzte sich hin, rauchte eine Zigarette und starb.«
»Wie ist das möglich, Doktor?«
»Vielleicht Darmriß.«
Der Doktor ging ins Wohnzimmer und setzte sich.
Er saß hilflos und müde da. Ich wagte kein Wort zu sagen. Er hob den Kopf, lächelte matt.
»So ist das nun. Er hat mich in Wut gebracht, und ich bin in Wut weggegangen.«
»Ich weiß«, sagte ich, »aber es war sein Fehler.«
Der Doktor schüttelte den Kopf.
»Jeder Mensch hat ein Recht auf Gefühle und auch darauf, sie zu zeigen.« Er fuhr langsam fort: »Ein Arzt nicht. Er hat das Recht nicht.«
Er schwieg wieder, ehe er leise sagte: »Ich hätte wissen müssen, daß die Gefahr bestand — die Gefahr, daß er den Wagen zurückschickte.«
»Aber Doktor«, sagte ich, »Sie haben doch nicht etwa ein Gefühl der Schuld?«
»Doch, ich hätte daran denken müssen. Das wird von mir verlangt. Ich bin eben als Arzt kein Handwerker. Der kommt und geht, wann er will.«
Er wandte sich brüsk ab und ging in die Praxisräume hinüber.
Seine Frau sah mich sorgenvoll an.
»Er wird nun tagelang darüber nachdenken, ob er wirklich einen Fehler gemacht hat. Er ist nun mal so. Und viele Ärzte sind so. Manche benehmen sich wie Zyniker, aber sie sind es nicht. Mein Mann hat einen Bekannten, einen Chirurgen, der den großen Sprung gemacht hatte. Der wurde nämlich Chefarzt einer Klinik, die ganz neu und ganz modern eingerichtet wurde. Wir haben sie besichtigt. Dieser Kollege meines Mannes hatte im Lichtspiegel über dem Operationstisch eine Filmkamera einbauen lassen.
Ich sagte: >Na, das ist hübsch. Sie werden Filme von Operationen machen zu Lehrzwecken.<«
Die Frau des Doktors lächelte. »Da sahen jener Chirurg und mein Mann mich mitleidig an. Sie verstanden sich sofort. Und der Chirurg sagte: >Die Kamera ist da, damit ich jederzeit nachweisen kann, daß ich alles richtig gemacht habe.< Die Kamera also als Alibi. Alles richtig zu machen, das ist die Hauptsache für jeden Arzt.«
Sie zeigte auf den Schreibtisch, auf dem sich Prospekte, Zeitschriften häuften. Ein Wust von Papier, ein wahres Gebirge von Gedrucktem.
»Sehen Sie sich das an. Vieles davon fliegt in den Papierkorb. Es sind die üblichen Prospekte der pharmazeutischen Industrie, aber dennoch muß man es überfliegen. Es gibt ja ständig neue Mittel, und einige sind wirkliche Verbesserungen.«
Sie schüttelte den Kopf, breitete die Hände hilflos aus.
»Sie kennen ja nun den Arbeitstag meines Mannes. Um sechs oder halb sieben steht er auf, macht seine Praxis und fährt dann über Land. Abends der Schriftkram und die Untersuchungen, die im Labor vorgenommen werden müssen. Vor zwölf kommen wir kaum ins Bett. Und er sollte das alles lesen. Ich habe ihn manchmal gefunden, mit dem Kopf auf dem Schreibtisch liegend, eingeschlafen.«
Bitter fügte sie hinzu: »Und das sind nun die sogenannten. Feld-, Wald- und Wiesenärzte, die man in der Stadt ein wenig über die Schulter anguckt. Es gibt da Rangfolgen, die ganz nach äußeren Dingen gehen. Die Adresse des Arztes ist von Bedeutung. Hamburg Ballingdamm oder Harvestehuder Weg und dann — Bredersdorf . Wer wird das schon sein? Der Mann aus Bredersdorf . Wenn er was könnte, wäre er doch nicht auf dem Dorf. So denken manche.«
»Und es ist falsch«, sagte ich.
»Ja, es ist falsch«, wiederholte sie. »Der elegante Zweireiher hat nichts zu bedeuten. Ebenso wie die komischen Stoffgamaschen meines Mannes nichts zu bedeuten haben. Aber so sind die Menschen nun mal. Ihnen imponiert der äußere Schein.« Sie lachte: »Wie jener Professor seinen Studenten sagte: >Wenn Sie bei einer Diagnose nicht weiterkommen, wenn Ihnen gar nichts einfällt, meine Herren, dann machen Sie wenigstens ein bedeutendes Gesicht.« So gibt es viele, die bedeutende Gesichter machen. Nur starr das Auge auf den Patienten gerichtet und mal >so, so< gesagt. Es wirkt Wunder.«
Sie schenkte uns einen Schnaps ein. Sie war begierig darauf, ihn zu trinken und kippte ihn hinunter wie ein Fuhrmann. Aber er tat ihr gut. Sie begann wieder zu lächeln.
»Sie verstehen«, sagte sie leicht, »ich verteidige meinen Mann. Ich liebe ihn, und ich helfe ihm, wo ich kann. Ich will ihm alle Sorgen abnehmen, daß er sich nur auf seine Aufgabe zu konzentrieren braucht. Das hat jeder Mann nötig.«
»Ja«, sagte ich und betrachtete abwesend eine Bronzefigur auf einem
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