Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
sondern erhöht die Wahrscheinlichkeit auf Hilfe in der Zukunft. Eine solche Strategie ist auf ein hohes Maß an Verstandestätigkeit angewiesen. Man muss sich merken, wer gut und wer schlecht ist und wer einem in der Vergangenheit geholfen hat. Noch schwieriger: Im Idealfall müsste man auch denen helfen, die einem morgen helfen werden (obwohl man das doch noch nicht weiß), denn wenn sie die Regel verwenden, die man selber verwendet, helfen sie einem nicht, wenn sie sich nicht erinnern können, dass man ihnen zuvor geholfen hat. Man muss sich also nicht nur merken, wer einem selbst geholfen hat , sondern auch erraten, wer einem helfen wird . Daher kann nicht überraschen, dass es sich bei den Tieren, die nennenswerte Anstrengungen unternehmen, um Artgenossen zu helfen, nicht um Schnecken oder Frösche handelt, sondern um intelligentere, soziale Tiere wie Menschen, Menschenaffen, Tieraffen, Delphine, Fledermäuse und Elefanten. Nicht weil sie klug genug sind, um rational entscheiden zu können, was gut und was schlecht ist, sondern weil ihre Gehirne ihnen erlauben, Individuen zu erkennen und zu erinnern, wer was getan hat.
Genau diese Geschlechterdifferenz – die Männchen sind heikler in der Auswahl derer, für die sie Empathie aufbringen – hat sich in Tania Singers Experiment gezeigt. 67 Wenn wir sehen, wie jemand, der sich uns gegenüber als großzügig erwiesen hat, Elektroschocks erhält, fühlen wir uns alle veranlasst, seine Schmerzen mitzuempfinden und möglicherweise auch Hilfe zu leisten. Doch der Anblick eines als unfair erkannten Menschen, der die gleichen Elektroschocks erhält, aktiviert bei Frauen Empathie und bei Männern Lustzentren. Tatsächlich scheint dieses selektive, von der Fairness des anderen abhängige Empathie-Verhalten nicht auf Menschen beschränkt zu sein. Menschenaffen sind grundsätzlich bereit, ihr Futter mit anderen zu teilen, doch geben sie den Tieren mehr, von denen sie in der Vergangenheit welches erhalten haben. XVII
Jemandem nur deshalb zu helfen, weil er uns einmal helfen könnte oder geholfen hat – das hört sich sehr berechnend an. Ist das wirklich das, was uns durch den Kopf geht, wenn wir den armen Kerl blutend am Straßenrand sitzen sehen? Geht das dem Affen durch den Kopf, wenn er nicht an der Kette zieht? Nein, wir empfinden einfach den Schmerz mit, und das veranlasst uns zu helfen. Der ultimate, evolutionäre Grund für ein Verhalten unterscheidet sich vom proximaten Grund.
Allgemein gesprochen, sind es Emotionen, Gemütsbewegungen, die uns in Bewegung setzen. Die Evolution richtet es so ein, dass diese Emotionen unser Verhalten steuern. Wir trinken Wasser, essen, schlafen und haben Sex, weil wir uns dabei gut fühlen. Gleiches gilt für Empathie und unser moralisches Empfinden. Affen – und vermutlich die meisten Menschen – verzichten nicht aus Berechnung darauf, anderen Leid zuzufügen – weil sie hoffen, so erfolgreicher zu sein –, sondern weil sie sich damit auch selbst Leid zufügen würden. In dem Bruchteil einer Sekunde, die einem Menschenaffen für die Entscheidung bleibt, ob er bei der Verteidigung eines Freundes helfen soll, wird er wohl kaum darüber nachdenken, wie wahrscheinlich es ist, dass der andere sich eines Tages revanchieren wird. Er fühlt eine Welle von Mitgefühl für das Opfer und Wut auf die Aggressoren, die für dieses miterlebte Leid verantwortlich sind. Emotion ist Berechnung vonseiten der Evolution.
In den achtziger Jahren beschlossen der Politologe Robert Axelrod und der Evolutionsbiologe William D. Hamilton, beide von der Michigan University, einen Wettbewerb auszuschreiben. Jeder Beitrag war ein Computerprogramm, das gegen andere Programme ein bestimmtes Spiel spielte – jenes Gefangenendilemma, das wir in Tania Singers Experiment kennengelernt haben. Dabei entscheidet jeder Spieler, ob er kooperiert oder den anderen verrät. Wenn beide Programme für Kooperation optieren, erhält jedes 3 Punkte. Wenn eines kooperiert und das andere verrät, bekommt das erste 0 und das zweite 5 Punkte. Wenn sich beide für Verrat entscheiden, erhält jedes 1 Punkt.
Das Spiel ähnelt vielen Fällen menschlicher Kooperation. Wenn zwei Partner im Geschäftsleben kooperieren, dann sind sie erfolgreicher als alleine, müssen aber den Gewinn teilen. Wenn der eine sein Geld ins Geschäft steckt und der andere sich damit davon macht, dann verliert der eine alles, und der andere gewinnt alles, ohne dem Ertrag halbieren zu müssen. Die
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