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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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zugefügt hätte. Einige Affen mieden die Kette zwölf Tage lang vollständig, nachdem sie ein einziges Mal erlebt hatten, dass sie damit einem anderen Affen Schmerzen verursachten. Da in dem Experiment die Trennwand zwischen den beiden Affen durchsichtig war, konnte der den Elektroschock erleidende Affe sehen, wer an der Kette zog. Hörte der andere Affe einfach deshalb auf, an der Kette zu ziehen, weil er Vergeltung fürchtete? Nein. Makaken leben in einer sehr hierarchischen Welt, in der kleinere Affen keine größeren angreifen. Doch es spielte keine Rolle, ob die Affen, die die Elektroschocks erhielten, kleiner oder größer waren als der Affe, der an den Ketten zog. Entscheidend war, wie gut die Affen einander kannten. Waren sie Käfiggenossen, ging es ihnen noch mehr gegen den Strich, einander Schmerzen zuzufügen, auch wenn das Opfer der Elektroschocks zu klein war, um Vergeltung zu üben. Wie Menschen scheint es Affen leidzutun, andere zu misshandeln – besonders wenn sie sich kennen.
    Hüten wir uns davor, diese Ergebnisse überzubewerten. In den Jahren, als ich mit Makaken arbeitete, habe ich gesehen, wie sie sich schrecklich verletzten, sich sogar im Kampf ganze Finger abbissen. Sie sind aggressive Tiere und zu äußerster Gewaltanwendung bereit, um die soziale Leiter hochzuklettern. Die Studie zeigt aber, dass diese Affen über echte empathische Gefühle und moralische Empfindungen verfügen, mögen diese auch mit brutaler Aggressivität einhergehen – so wie Menschen, nach einem Arbeitstag als Wache in einem Konzentrationslager, am Abend liebevoll und einfühlsam mit ihren Kindern umgehen können.
    Es mag ja ganz nett sein, nicht an einer Kette zu ziehen, wenn man noch eine andere hat, für die man sich entscheiden kann, aber Menschen, so könnten Sie vorbringen, riskieren ihr Leben für andere! Das würde doch ganz gewiss kein Tier tun. Die englische Primatologin Jane Goodall, die fast fünfunddreißig Jahre mit Schimpansen in Tansania lebte und ihre Erinnerungen in dem Buch Ein Herz für Schimpansen ** veröffentlichte, weiß zu berichten, dass Schimpansen genauso heldenhaft wie Menschen sein können. »Auch wenn Schimpansen eine Gefahr meistens zugunsten von Familienmitgliedern auf sich nehmen, gibt es Beispiele dafür, dass einzelne auch Verletzungen oder ihr Leben riskiert haben, um einem nichtverwandten Geführten beizustehen. [Der Schimpanse] Evered trotzte einmal bei einer Jagd der Wut erwachsener Pavianmännchen, um den kreischenden jungen Mustard zu retten, den die Paviane an den Boden gedrückt festhielten … Schimpansen können nicht schwimmen, und wenn sie in tiefes Wasser fallen … Ein erwachsenes Männchen starb, als es ein Kleinkind retten wollte, das seine unfähige Mutter hatte ins Wasser fallen lassen«.
    ** Reinbek, Rowohlt, 1991.
    Wie eine faszinierende und überraschende Entdeckung zeigt, lassen sogar Ratten – diese kleinen Tiere, bei denen wir höchst selten an Moral und Tugend denken – Anzeichen für Empathie mit anderen Ratten erkennen. In unserem Labor verabreichten wir einer Ratte, die wir den Demonstrator nannten, einen sehr leichten elektrischen Schlag. Der verursacht keinen echten Schmerz (ich habe meine Hand in die Vorrichtung gehalten, um sicher zu sein), aber es ist ein ungewöhnliches Prickeln, das den Demonstrator sichtlich erschreckt. Dabei beobachteten wir, dass eine zweite Ratte erstarrte, wenn sie die Schreckreaktion des Demonstrators sah. Die Schreckstarre, das heißt, die vollkommene Einstellung von Bewegungen, ist das Verhalten von Ratten in Notsituationen, um eine Entdeckung durch Fressfeinde zu verhindern. Doch in diesem Fall erstarrt der Zeuge nicht um seiner selbst willen, sondern infolge des Schrecks eines anderen. Dabei kommt es zu dieser Reaktion nur dann, wenn der Zeuge den Demonstrator gut kennt – genau wie viele Affen und Menschen mehr Empathie für Menschen zeigen, die sie gut kennen und die sie zur eigenen Gruppe rechnen. Ratten bieten also offensichtlich die Möglichkeit, Empathie bei Tieren zu studieren. In Chicago wiesen Jean Decety und sein Team sogar nach, dass eine Ratte, die beobachtet, wie eine andere in einer Falle sitzt, sich bemüht, ihre Artgenossin zu befreien. Daraus folgt, dass eine Notsituation, die von einer Zeugin stellvertretend erlebt wird, offenbar als Motiv für prosoziales Verhalten dienen kann.
    Moralische Gefühle und Lernen
    Während der Entwicklung sind unsere moralischen Empfindungen gewaltigen Veränderungen

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