Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
unterworfen. Es ist durchaus möglich, dass wir unseren Freunden als Kleinkinder Spielzeug stibitzen. Wenn wir dann sehen, wie unser Freund weint und unsere Eltern ärgerlich sind, bereuen wir unsere Taten, aber dann ist der Schaden bereits angerichtet. Im Erwachsenenalter genügt schon der bloße Gedanke, unseren Partner zu betrügen, um uns Schuldgefühle einzuflößen. Was ist da geschehen? Psychologen bezeichnen das als die Verinnerlichung von Werten: Wenn unsere Eltern über bestimmte Verhaltensweisen von uns ärgerlich sind, »verinnerlichen« wir ihre Werte und entwickeln selbst negative Gefühle gegenüber diesem Verhalten. Das Konzept der gemeinsamen Schaltkreise in einem lernenden Gehirn kann uns helfen, die Verinnerlichung moralischer Werte zu verstehen.
Wie wir im Zusammenhang mit dem Lernen durch Beobachtung gesehen haben, verwenden alle höheren Organismen den Lernmechanismus »operante Konditionierung«, bei dem das Ergebnis einer Handlung darüber entscheidet, ob wir sie in Zukunft wiederholen oder vermeiden. Dieser effektive individuelle Lernmechanismus hat an sich keine soziale Funktion. Doch in Verbindung mit gemeinsamen Schaltkreisen wird er zu einem Instrument der Sozialisation. Wenn wir unserem Freund das Spielzeug stibitzen, ihn dadurch zum Weinen bringen und unsere Eltern verärgern, empfinden wir ihren Kummer und Ärger mit – Gefühle, die wir mit dem Stehlen verknüpfen. Infolgedessen werden wir fortan beim Stehlen ein schlechtes Gewissen haben und seltener stehlen. Wenn wir dagegen einen weinenden Freund trösten, empfinden wir seine Dankbarkeit mit und entwickeln folglich positivere Gefühle für diese Handlungsweise. Die Entscheidung, zu stehlen oder nicht zu stehlen, wird zunehmend von den Gefühlen bestimmt, die wir mit ihr zu assoziieren gelernt haben – Gefühle, die jetzt der Handlung vorangehen und sie verhindern können. Wir müssen nun nicht mehr warten, um festzustellen, was unsere Handlungen bei anderen bewirken. Aus diesem Grund können wir die moralische Sozialisation unserer Kinder beschleunigen, indem wir ihnen klarmachen, welche Gefühle sie anderen Menschen durch ihr Verhalten einflößen.
Das evolutionäre Rätsel: Warum nehmen egoistische Gene Rücksicht auf andere?
Die gemeinsamen Schaltkreise helfen uns, unsere moralischen Gefühle besser zu verstehen. Sie sorgen dafür, dass anderen helfen bedeutet, sich selbst zu helfen und sich gut zu fühlen, weil wir die Freude der anderen miterleben, während anderen schaden heißt, sich selbst zu schaden und sich schlecht zu fühlen, weil wir das Leid der anderen mitempfinden. Biologen sprechen in diesem Zusammenhang von der proximaten (unmittelbaren) Ursache moralischer Empfindungen, das heißt dem Faktor, der sie im Hier und Jetzt verursacht. Eine ganz andere Frage ist, wie sich unsere moralischen Gefühle im Laufe der unermesslichen evolutionären Zeiträume entwickelt haben, also die Frage nach der ultimaten (mittelbaren) Ursache. Da ging es um die Frage, warum die Evolution Tiere hervorgebracht hat, die füreinander sorgen, da das doch Energieverschwendung zu sein scheint in einer Welt, in der das Prinzip vom Überleben des Fittesten herrscht.
Eltern sorgen für ihre Kinder. Bei Tieren heißt das, auf eine Menge Nahrung zu verzichten und das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Für Menschen bedeutet es schlaflose Nächte und hohe Ausbildungskosten. Allerdings lässt sich diese Großzügigkeit leicht erklären. Wenn ein Gen elterliche Fürsorge fördert, erben die Kinder dieses Gen in 50 Prozent der Fälle (da die Hälfte der Gene vom anderen Elternteil stammt). Wenn das Gen dafür sorgt, dass für diese Kinder gut gesorgt wird, fördert es also sich selbst – in Gestalt seiner Kopien in den Kindern. Ein Erfolgsrezept für die natürliche (darwinistische) Selektion besteht folglich darin, für seine Kinder zu sorgen. Allerdings erklärt das nicht, warum wir im Beispiel vom Anfang dieses Kapitels dem armen Kerl am Straßenrand helfen möchten.
Lange Zeit konnten die Evolutionsbiologen nicht verstehen, warum irgendein Tier in einer solchen Situation einem anderen helfen sollte. Dann verfiel man auf das Prinzip der Gegenseitigkeit . Für solitäre Tiere wie Katzen ist es ziemlich nutzlos, anderen Katzen zu helfen, wenn diese nicht mit ihnen verwandt sind. Anders ist die Situation für einen Affen, der in einer sozialen Gruppe lebt. Affen kommen in der freien Natur sehr schlecht zurecht, wenn sie von ihrer Gruppe
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