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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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getrennt werden. In sozialen Gruppen werden Moral und Empathie zu Überlebensstrategien. Stellen Sie sich zwei verschiedene Affengruppen vor. Die eine Gruppe besitzt ein Gen, das die Tiere veranlasst, Leid und Freude der anderen Gruppenmitglieder mitzuempfinden (das heißt, sie haben gemeinsame Schaltkreise); die andere Gruppe besitzt kein solches Gen. Nun stellen Sie sich vor, dass ein Raubtier in die beiden Gruppen einfällt. In der ersten gelingt es dem Räuber vielleicht, einen der Affen zu fassen, doch dessen Schreie werden die anderen Tiere veranlassen, ihm zu Hilfe zu eilen. Gemeinsam können sie den Räuber in die Flucht schlagen, und alle überleben. Hier ist der Begriff der Gegenseitigkeit von Bedeutung, denn die Helfer mögen heute Nachteile in Kauf nehmen müssen – das Raubtier könnte sie verletzen, während sie helfen –, doch morgen werden sie vielleicht selbst zu Opfern und genießen dann den Vorteil, dass andere ihnen zu Hilfe kommen. Die Hilfe, die ein Affe leistet, ist von indirektem Nutzen – das Tier verschafft sich die Möglichkeit, die Hilfe von anderen zurückzubekommen.
    Im Laufe der Zeit können die Vorteile des Helfens die Nachteile überwiegen. Zwar mögen alle Tiere kleine Kratzer und Beulen abbekommen, aber keines stirbt. In der anderen Gruppe isoliert der Fressfeind einen der Affen, während die anderen einfach davonlaufen. Das zahlt sich für die Ausreißer zwar kurzfristig aus, denn solange der Räuber seine Beute frisst, greift er keinen anderen Affen an, doch langfristig könnten auch sie an die Reihe kommen, und niemand wird zu ihrer Verteidigung da sein.
    Bei näherer Betrachtung scheint die Argumentation nicht zu stimmen. Die Gruppe als Ganze würde zwar von einem solchen altruistischen Gen profitieren – doch Gruppen haben im Gegensatz zu Individuen keine Gene. Würde sich bei einem einzelnen Affen in der zweiten, egoistischen Gruppe ein empathisches Gen ausbilden, würde er anderen zu Hilfe kommen und sein Leben aufs Spiel setzen, ohne jemals seinerseits Hilfe zu bekommen. Wie kann dann die Entwicklung von Altruismus beginnen?
    Der erste wichtige Faktor ist, dass die meisten modernen Primaten matrilokal sind, das heißt, dass die Männchen aus der Gruppe vertrieben werden und sich benachbarten Gruppen anschließen, während die Weibchen bleiben. Infolgedessen sind die meisten, wenn auch nicht alle, Weibchen direkte Blutsverwandte. Bei den Männchen stellt sich die Situation etwas anders dar, denn die dominanten Männchen mögen zwar viele Kinder haben, nicht jedoch die Neuankömmlinge. Insgesamt ist der Verwandtschaftsgrad der anderen Männchen mit der Gruppe geringer als der der Weibchen.
    Da erscheint ein gewisser Unterschied im Altruismus unvermeidlich. Wenn ein Affenweibchen ein anderes Tier aus ihrer Gruppe rettet, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass dieser Affe eine Kopie des altruistischen Gens besitzt: Das zu Hilfe eilende Weibchen fördert also seine eigenen Gene. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Gruppenmitglied das Gen hat, ist allerdings geringer, als wenn es seinen eigenen Kindern hilft, daher wird es für die Gruppenmitglieder weniger tun als für die eigenen Kinder, aber mehr für die Gruppenmitglieder als für die Mitglieder benachbarter Gruppen.
    Ich glaube, dass unser aller Großzügigkeit ein solches Gefälle aufweist. Wir sind bereit, fast alles für unsere Kinder und nächsten Verwandten zu tun, weniger für den armen Kerl am Straßenrand und noch weniger für die Menschen auf fernen Kontinenten. Entfernung ist entscheidend. Möglicherweise hat unser Widerstreben, für anonyme Kinder in Afrika zu spenden, etwas mit diesen einfachen Verwandtschaftsgesetzen zu tun.
    Ein Männchen hat jedoch größere Schwierigkeiten zu erkennen, ob ein anderes Männchen der Gruppe mit ihm verwandt ist. Wenn es in eine neue Gruppe kommt (weil es aus seiner vertrieben wurde), hat es weniger mit den Gruppenmitgliedern gemein als ein Weibchen. Sich so generell altruistisch zu verhalten wie ein Weibchen, würde daher bedeuten, auch einem Tier zu helfen, das kein Blutsverwandter ist. Daraus ergibt sich, dass unser Affe nicht für alle die gleiche Empathie empfindet. Anderen zu helfen, bringt nur dann Nutzen, wenn er Hilfe zurückbekommt, daher sollte er nur denen helfen, die ihm geholfen haben oder helfen werden, und nicht denen, die ihm in der Vergangenheit die Hilfe verweigert haben. So betrachtet, dient der Mechanismus nicht mehr der Förderung der eigenen Gene,

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