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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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flexibler in andere Richtungen lenken lässt und auf Maßnahmen der kognitiven Verhaltensmodifikation gut anspricht.

KAPITEL VIER Zum sozialen Leben geboren
    Die Entdeckung der Spiegelneuronen war für viele Wissenschaftler eine echte Überraschung. Sie ermöglichen uns, hinter die Tricks zu kommen, mit deren Hilfe das Gehirn andere Menschen versteht. Wie wohl die meisten Leute zugeben würden, dass ein paar Grundkenntnisse in Physik und Technik das Verhalten eines Piloten sicherer und umsichtiger machen, können wir uns, wenn mit den Grundfunktionen von Spiegelneuronen vertraut sind, etwas geschickter in unserer sozialen Welt bewegen.
    Lernen, wie eine Handlung unsere Wahrnehmung verändert
    Nach klassischer Ansicht der Hirnforschung beruht das Verständnis anderer Individuen auf spezialisierten Systemen im Gehirn, die zu den motorischen Systemen keine Verbindung aufweisen. Daraus würde folgen, dass unsere motorischen Fertigkeiten nur begrenzten und indirekten Einfluss auf die Wahrnehmung des Verhaltens anderer hätten. Im Licht der Spiegelneuronen stellt sich die Situation anders dar. Wenn wir die Handlungen anderer Individuen mittels unserer eigenen Bewegungsprogramme interpretieren, werden diese Programme sich sehr nachhaltig auf unsere Wahrnehmung anderer Individuen auswirken. Meine Frau Valeria spielt schon seit mehr als zehn Jahren Klavier. Hört sie aus diesem Grund das eine Klavierstück etwas anders als jemand wie ich, der nie gespielt hat? Gewiss doch! Sie kann die Töne in das motorische Programm des Klavierspiels umwandeln, ich nicht.
    2006 untersuchten Marc Bangert und seine Forschungsgruppe an der Universität Hannover dieses Phänomen. Sie verglichen eine Gruppe von Versuchsteilnehmern, die nie Klavier gespielt hatten, mit einer Gruppe, die seit vielen Jahren intensiv spielte. Beide Gruppen hörten sich die Aufzeichnung eines Klavierkonzerts an, während ihre Gehirnaktivität von den Forschern gemessen wurde. Während in den prämotorischen Arealen der Nicht-Spieler fast keine Aktivität zu messen war, aktivierten die erfahrenen Klavierspieler automatisch die prämotorischen Programme, die für das Klavierspielen zuständig sind. Beim Lernen des Klavierspiels hatte sich die Art, wie sie Klaviermusik hörten, irgendwie verändert. Plötzlich hörten sie das Klavier nicht mehr nur mittels der Ohren, sondern begannen es auch, durch ihre Fingerbewegungen wahrzunehmen, was bei den musikalischen Novizen nicht der Fall war; 17 dies wiederum lässt darauf schließen, dass sich das auditive Spiegelsystem, das wir mit Hilfe von Handlungsgeräuschen maßen, auch auf neue Handlungen – etwa das Spielen eines Musikinstruments – ausdehnen lässt. Unser Spiegelsystem ist also bei der Geburt nicht völlig festgelegt, sondern kann durch Erfahrungen, die unsere Wahrnehmung der Handlungen anderer verändern, erheblich erweitert werden.
    Dass mit der Fachkenntnis die Spiegelreaktionen zunehmen, könnte entweder daran liegen, dass sich Klavierspieler überdurchschnittlich für Klaviermusik interessieren und sie häufig hören, oder daran, dass sie viel Klavier spielen. Um diese Möglichkeiten voneinander zu unterscheiden, begannen sich im selben Jahr die spanische Neurowissenschaftlerin Beatriz Calvo-Merino und ihre Kollegen vom University College London mit Balletttänzern zu beschäftigen. Tänzerinnen und Tänzer üben gemeinsam, daher können sie sich sehr häufig bei ihren Bewegungen gegenseitig beobachten; dabei haben sie viele Bewegungen gemeinsam, einige aber nicht. Die geschlechtsspezifischen Bewegungen bieten also Gelegenheit, die Wirkung des Anblicks von Handlungen und des Interesses an ihnen von der Wirkung der Handlungsausführung zu unterscheiden. Als die Forscher erfahrenen Tänzern und Tänzerinnen geschlechtsspezifische Bewegungen zeigten, reagierten beide Geschlechter mit einem gewissen Maß an Spiegelaktivität auf alle Bewegungen, wobei allerdings die Frauen stärkere Spiegelaktivität bei weiblichen Bewegungen und die Männer stärkere Aktivität bei männlichen Bewegungen erkennen ließen. 18
    Die Reaktionsunterschiede lassen vermuten, dass das Spiegelsystem auf Bewegungen, deren Einzelheiten nicht in unserem eigenen Vokabular enthalten sind, durchaus reagieren kann – ähnlich den sogenannten allgemein kongruenten Spiegelneuronen, die wir in früheren Kapiteln kennengelernt haben. Allerdings findet eine stärkere Spiegelreaktion beim Anblick einer Bewegung statt, die der Beobachter immer

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