Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Aktivität in denselben Arealen stattfindet wie bei normalen Individuen. Die Hirnregionen, die vorher für die fehlende Gliedmaße zuständig waren, beginnen angrenzende Körperteile zu repräsentieren – und reagieren, wenn die Person sieht, wie andere Menschen Handlungen ausführen, die sie mit Hilfe dieser Gliedmaße verrichten würden.
Das Spiegelsystem bahnt das Verständnis von Zielen
Unser motorisches System setzt sich zusammen aus dem primär motorischen Kortex und höheren motorischen Arealen, unter anderem dem prämotorischen Kortex, in dem sich Spiegelneuronen befinden. Neuronen im primär motorischen Kortex sind mit bestimmten Muskelgruppen verknüpft. Wenn wir uns alle Fälle ansehen, in denen ein bestimmtes Neuron im primär motorischen Kortex feuert, stellen wir fest, dass es sich um alle Fälle handelt, wo eine bestimmte Muskelgruppe in einer bestimmten Weise tätig war. Beispielsweise sind die für die Bewegung Ihres Zeigefingers zuständigen Muskeln beteiligt, wenn Sie auf einer Tastatur tippen, eine Zigarette halten und eine Bewegung machen, die »Komm her!« bedeutet. Allen diesen Bewegungen liegt keine gemeinsame Absicht zugrunde, aber die Muskelbewegung ist ähnlich.
Nehmen wir die gleichen Beobachtungen an einem prämotorischen Neuron vor, erkennen wir, dass allen diesen Aktivierungsfällen ein Ziel oder eine Absicht eigen ist – wie zum Beispiel Greifen, Aufbrechen oder Entfernen. »Ziel« wird hier pragmatisch verwendet: Es ist das, was mit einer Handlung erreicht werden soll. Wenn ich die Kappe von einem Füllfederhalter entferne, dann ist das Ziel der Handlung – egal, ob mit Händen oder Mund ausgeführt –, dass sich die Kappe nicht mehr auf dem Füller befindet. Neuronen im prämotorischen Kortex scheinen im Hinblick auf solche Ziele organisiert zu sein, wobei viele in ähnlicher Weise auf Greifbewegungen reagieren, gleich, wie sie ausgeführt werden. Eine f MRT -Studie zeigte, dass sowohl beim Schreiben mit der Hand als auch mit dem Fuß dieselben Regionen des prämotorischen Kortex beteiligt sind. 21
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das motorische System wie eine Armee organisiert ist, was dem Gehirn große Flexibilität verleiht. Generäle in den prämotorischen Regionen entscheiden, was getan werden soll, Subalternoffiziere am Übergang von den prämotorischen zu den primär motorischen Neuronen befinden darüber, wie diese Ziele unter den Bedingungen einer bestimmten Situation zu erreichen sind, und einfache Soldaten im primär motorischen Kortex sorgen dann für die Ausführung der Handlung, indem sie die richtigen Muskeln bewegen. Die Flexibilität ist nützlich, denn zwar umfasst Essen stets Greifen, Kauen und schließlich Schlucken, aber der Greifakt wird von Mal zu Mal anders ausfallen. Daher ist es vernünftig, das allgemeine Programm im prämotorischen Kortex zu speichern, um die verschiedenen Muskeln dann flexibel einzusetzen, je nachdem, ob man Stäbchen, Gabeln oder Brot vor sich hat.
Mit der Entdeckung der Spiegelneuronen im prämotorischen Kortex wird der Umstand, dass diese Regionen Generäle sowie Subalternoffiziere enthält, die zielorientiert denken, und keine einfachen Soldaten, die lediglich Muskelgruppen berücksichtigen, unmittelbar bedeutsam für unsere Wahrnehmung der Handlungen anderer Individuen. Wie die Experimente an Robotern, Tieren und ohne Arme geborenen Menschen zeigten, scheint unser Spiegelsystem motorische Programme zu aktivieren, die uns ermöglichen, das von dem beobachteten Individuum angestrebte Ziel zu erreichen. Sehen wir, wie ein Roboter ein Glas ergreift, aktivieren wir motorische Programme, die uns veranlassen würden, das Glas mit unseren Händen zu ergreifen. Wenn Teilnehmer, die ohne Hände geboren wurden, Filme sehen, in denen jemand ein Glas ergreift, aktivieren sie motorische Programme, bei denen zur Erreichung des gleichen Ziels Fuß oder Mund eingesetzt würden. Nach allem, was wir über zielorientierte Repräsentationen im prämotorischen Kortex wissen, sollte uns dieses Ergebnis nicht überraschen. Würden wir gemäß eines klassischeren Gehirnmodells glauben, dass die Handlungen anderer Individuen unabhängig von unseren Handlungen repräsentiert werden, wäre weitaus schwerer zu verstehen, warum Ziele eine so herausgehobene Bedeutung haben, wenn wir andere Individuen beobachten.
Lernen durch Beobachtung
Die Entdeckung der Spiegelneuronen hat sich auch nachhaltig auf unsere Vorstellungen von einer anderen
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