Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Die Filme mit dem Roboter aktivierten das Spiegelsystem genauso wie die Filme mit Menschen. Die Unterschiede im Bewegungsmuster und im körperlichen Erscheinungsbild zwischen dem Roboter und unseren menschlichen Beobachtern hinderten das Spiegelsystem nicht daran, die Robotertätigkeit im Licht menschlicher Tätigkeiten, der Handlungen der Teilnehmer, zu interpretieren. Das traf sogar dann zu, wenn der Roboter, statt ausgesprochen menschliche Tätigkeiten – wie das Ergreifen eines Glases – zu verrichten, einfach bunte Holzklötze bewegte. Ein weiteres Experiment zeigte, dass wir auch das Verhalten von Tieren mittels unserer eigenen Handlungen interpretieren. 20
In einer Welt, in der Roboter an Bedeutung gewinnen, hat diese Fähigkeit des Spiegelsystems, Roboterhandlungen zu assimilieren, eine wichtige Konsequenz. Unser Gehirn hat sich in Jahrmillionen Evolution herausgebildet, um sich optimal auf das Verhalten von Tieren und anderen Menschen einzustellen. Aus der Beobachtung, dass Roboter, selbst wenn sie nicht wie Menschen ausschauen, unser Spiegelsystem genauso wie Menschen zu aktivieren scheinen, folgt, dass sie in Zukunft in die Arbeitswelt integriert werden, eine feste Verbindung mit dem Spiegelsystem menschlicher Arbeiter eingehen und auf diese Weise von Jahrmillionen Evolution profitieren könnten. Weitere Experimente in diese Richtung werden erforderlich sein, um die Grenzen dieses Phänomens aufzuzeigen. Regisseure wie George Lucas scheinen den richtigen Instinkt gehabt zu haben. Selbst sehr seltsam aussehende Roboter können eine Verbindung zu unserem sozialen Gehirn herstellen und in uns Gefühle wie Erbarmen, Mitgefühl und Freude auslösen – fast als wären sie Menschen.
Wie Menschen, die ohne Hände geboren wurden, Handbewegungen spiegeln
Eines Tages platzte Theo Mulder, Direktor der Königlich-Holländischen Akademie der Wissenschaft und Professor für Bewegungswissenschaft, mit strahlendem Lächeln in unser Büro. »Hätten Sie Interesse daran, Versuchspersonen zu scannen, die ohne Arme geboren wurden?«, fragte er. Interessiert leuchteten Valerias Augen auf. Sie hatte gerade die Datenanalyse des Roboterexperiments abgeschlossen und fragte sich nun, wie wir wohl Handbewegungen wahrnehmen würden, wenn wir nie Hände gehabt hätten. Klar, dass wir Ja sagten.
Einige Monate später traf der erste Versuchsteilnehmer ein. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er und hob im Stehen den Fuß, um mir die Hand zu schütteln. Ich schüttelte ihm den Fuß und beobachtete verblüfft, wie außerordentlich geschickt er Beine und Füße bewegte. Während ihm Valeria das Experiment erklärte, kratzte er sich mit dem linken Fuß die Bartstoppeln. »Scheint leicht zu sein«, sagte er, und Minuten später war er im Scanner.
Zunächst sah er Filme von Händen, die bestimmte Handlungen ausführten, dann Hände und Füße bei Tätigkeiten – etwa eine Hand, die Zucker in eine Tasse Kaffee tat, und dann einen Fuß bei der gleichen Tätigkeit. Zum Schluss baten wir ihn, Lippen und Füße zu bewegen, um seine motorische Repräsentation von Mund- und Fußtätigkeiten zu kartieren. Kurz darauf kam der zweite Versuchsteilnehmer. Ich schüttelte ihm jetzt den Fuß, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Das Experiment ging wieder reibungslos vonstatten, und schon waren beide wieder fort. Beide Teilnehmer waren in den Dreißigern, hatten anspruchsvolle Berufe und waren ohne Arme und Hände geboren worden.
Kurz darauf saßen wir wieder vor unseren Computern und betrachteten die Ergebnisse. Sie zeigten vollkommen normale Spiegelaktivierungen in dem Areal, in dem auch Teilnehmer mit Händen und Armen diese Aktivität erkennen lassen. Doch als wir uns die Daten ansahen, die erhoben worden waren, als sie Handlungen mit Mund und Füßen verrichteten, stellte sich heraus, dass der Anblick von Handtätigkeiten, die sie noch nie ausgeführt hatten, auf Gehirnregionen abgebildet worden war, die sie jetzt für ihre Fuß- oder Mundtätigkeiten nutzen. Abermals sah es so aus, als ob ihr Spiegelsystem den Zweck der Handlung erkannte – »Greifen« – und diesen Zweck in ihrem eigenen, Fuß und Mund verwendenden motorischen Programm für Greifen verzeichnete. Interessanterweise hatte ihre Fußrepräsentation auch auf die Region übergegriffen, die bei regulär entwickelten Individuen für Handtätigkeiten zuständig ist. Dieses Phänomen zeigt sich oft bei Patienten mit Amputationen und erklärt, warum die visuelle
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