Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
aufgefordert, sich in die Lage der Menschen zu versetzen, denen sie zuhörten oder die sie beobachteten. Nach den Experimenten fragten wir sie, ob sie sich bewusst vorgestellt hätten, sie seien die Leute, die sie gesehen hatten, was alle verneinten. Folglich ist die von uns ermittelte Spiegelaktivität, in der sich der prämatorische Kortex in Einklang mit den Akteuren befindet, ein Prozess, der nichts mit einer bewussten, willentlichen Perspektivenübernahme zu tun hat. Vielmehr scheint dieser Vorgang spontan in Gang gesetzt zu werden, während wir die Handlungen anderer Individuen beobachten, weshalb er so intuitiv wirkt. Offenbar empfinden wir die Handlungen anderer mit, obwohl wir noch nicht einmal den Versuch machen, uns in sie hineinzuversetzen. In gewisser Weise »fühlen« wir, was in ihnen vorgeht; das unterscheidet das Spiegelsystem von der bewussten, logisch organisierten Reise eines Kriminalisten in die Geistesverfassung eines flüchtigen Straftäters.
Die Entdeckung der Spiegelneuronen machte mir klar, dass unsere Gehirne tatsächlich auf geradezu magische Weise miteinander verbunden sind. Wir kommen nicht mit einem Gehirn auf die Welt, das sich ausschließlich mit uns selbst beschäftigt, sondern das in der Lage ist, mit anderen Menschen mitzufühlen. Unser Gehirn ist so strukturiert, dass es sich auf die Menschen um uns her einstimmt. Aus diesem Grund habe ich eine andere Einstellung zu meiner Intuition gewonnen. Früher hielt ich sie für unzuverlässig und glaubte, sie sei meinem rationalen Denken unterlegen, doch heute sehe ich in ihr das Ergebnis eines raffinierten, hochentwickelten Prozesses, der die ganze Vielfalt meines motorischen Vermögens für Erkenntnisse über andere Menschen nutzt. So ist die Intuition zu einem verlässlichen Mitarbeiter für mich geworden, dessen Arbeit ich nicht kontrollieren und anleiten muss, sondern auf dessen Entscheidungen ich mich verlassen kann.
Wie die beobachteten Unterschiede zwischen Menschen mit verschiedenen Empathie-Niveaus und mit unterschiedlich ausgeprägten Fertigkeiten zeigen, kann die motorische Einfühlung, die unsere Gehirne verbindet, mal stärker und mal schwächer sein. Für die künftige Forschung wird es faszinierend sein, der Frage nachzugehen, wie sich die Stärke dieser Verbindung beeinflussen lässt. Wissenschaftler in aller Welt untersuchen heute, ob sich durch Meditation und bestimmte Wirkstoffe die Empathie verstärken lässt und inwieweit die Entscheidung, sich in jemanden einzufühlen oder nicht, die Aktivität in unserem Spiegelsystem verändert.
Bedeutung für die Lehre: Eine Handlung ist tausend Worte wert
In unserer extrem auf Wissen gegründeten Zivilisation wird abstraktes Wissen höher bewertet als praktisches Können. Einstein, der die verborgenen Gesetze der Materie und des Universums mit der einfachen Formel E=mc 2 erfasste, ist für viele Leute das größte Genie, das sie mit Freuden selber wären. Intellektuelles, abstraktes, rationales Denken gilt häufig als das Ziel, das der Unterricht unserer Schulen verfolgen müsse, während eher praktische und intuitive Fertigkeiten geringer geschätzt werden.
In pädagogischer Hinsicht lässt das Spiegelsystem vermuten, dass abstrakte Theorie nicht immer die wirksamste Lehrmethode sein dürfte. Sprache, die allgegenwärtige Grundlage des Unterrichtens, hat sich über etwa zwei Millionen Jahre entwickelt. Lernen durch Beobachtung dagegen gibt es seit vielen hundert Millionen Jahren. Daraus folgt, dass ein Lehrer, der sich auf verbalen Unterricht beschränkt, uralte und ungeheuer wirksame Kommunikationskanäle ungenutzt lässt. Spiegelneuronen öffnen eine außerordentlich privilegierte Tür zwischen dem Gehirn eines Lehrers und dem seiner Schüler.
Sprachliches Material in einem Lehrbuch ist nur mit erheblichem Aufwand zu entschlüsseln, und wir gelangen zu der Erkenntnis, dass das, was schließlich in unserem Kopf ankommt, wenn wir das Thema verstanden haben, etwas ganz anderes ist als die lange Kette von Buchstaben und Zahlen im Lehrbuch. Beim Lernen durch Beobachtung dagegen haben wir ein unmittelbares und intuitives Gefühl. Es ist ein ganz natürlicher Vorgang, einen Knoten zu knüpfen, während wir einen erfahrenen Seemann beobachten, der es langsam vormacht; der Versuch dagegen, es nach einer Anleitung in einem Buch zu bewerkstelligen, kann sehr frustrierend sein.
Doch das Lernen durch Beobachtung, das uns ganz selbstverständlich vorkommt, ist natürlich kein
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