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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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einfacher Prozess. Die mechanischen Kräfte, die wir beim Schürzen eines Knotens mit den Fingern ausüben, weisen physikalisch nicht mehr Ähnlichkeit mit den Lichtwellen auf, die vom Körper des Vorführenden reflektiert werden, als mit denjenigen, die von den Buchstaben eines Buchs zurückgeworfen werden. Denn trotz Jahrzehnte intensiver Forschung, trotz des Einsatzes leistungsfähiger Computer und der Bemühungen einiger der klügsten Köpfe der Welt, bemüht man sich in den KI -Labors noch immer vergebens, einen Roboter zu konstruieren, der eine Vielfalt von Fertigkeiten durch Beobachtung nachahmen kann. Robotern fällt es viel leichter, die schriftlichen Anweisungen eines Computerprogramms zu befolgen. Lernen durch Beobachtung ist für uns natürlicher, und Computerprogramme sind für Maschinen natürlicher, weil wir in Hunderten von Jahrmillionen Evolution im Beobachtungslernen vervollkommnet wurden, während die Sprache für unser Gehirn eine neue »Zusatzfunktion« ist. Roboter dagegen haben sich in einer Welt von Computerprogrammen entwickelt, daher ist für sie das Lernen durch Beobachtung eine neue Zusatzfunktion. Spiegelneuronen und die relativ direkten Nervenverbindungen zwischen dem visuellen und dem auditiven Kortex, die die Handlungen anderer Menschen verarbeiten, sind das greifbare Ergebnis dieser Millionen Jahre währenden Evolution. Wenn wir dieses wunderbar abgestimmte System nicht für den Unterricht nutzen, vernachlässigen wir einen erstaunlich effektiven Kommunikationskanal.
    Wenn wir etwas zu erklären haben, könnte also die Vorführung der Fertigkeit ein wichtiges didaktisches Werkzeug zur Ergänzung einer sprachlichen Erklärung sein. Gilt es beispielsweise, in der Schule das Lösen einfacher Gleichungen zu lernen, so scheint es sich kaum um eine physische Fertigkeit zu handeln, und doch können wir den Vorgang besser verstehen, wenn wir ihn in eine intuitivere motorische Operation umwandeln. Beispielsweise könnte (und sollte vielleicht) das Konzept des Addierens und Subtrahierens immer durch eine körperliche Demonstration ergänzt werden. Man nehme eine Schüssel mit drei Bonbons, ergreife zwei weitere Bonbons, die neben der Schüssel liegen, und lege sie in die Schüssel. »Das ist Zuzählen.« Dann entfernt man vier Bonbons aus der Schüssel und sagt: »Das ist Abziehen.«
    Die meisten von uns haben schon einmal erlebt, wie erhellend solche Demonstrationen für das Verständnis abstrakter Begriffe sein können. Viele gute Lehrer wissen instinktiv um die Bedeutung derartiger Unterrichtsmethoden. Dank der Entdeckung der Spiegelneuronen ist es uns möglich, die Intuition einiger begabter Lehrer auf eine wissenschaftlichere Grundlage zu stellen, die uns ermöglicht, die Funktion unserer Körper als Kommunikationskanäle zu verstehen.
    Simulation ist ein fundamentales Prinzip der Gehirnfunktion
    Wie gezeigt, ist eine grundlegende Eigenschaft des Spiegelsystems, dass das Sehen oder Hören von Tätigkeiten anderer die eigenen Gehirnregionen aktiviert, als verrichte man die gleiche Tätigkeit. Das Gehirn simuliert, was es in der Umgebung sieht, wobei allerdings unbedingt darauf hinzuweisen ist, dass es für Ausführung und Wahrnehmung nicht dieselben Hirnareale verwendet. Um gesehene/gehörte Handlungen in ein motorisches Vokabular zu übersetzen, braucht man zusätzliche Prozesse, und Spiegelneuronen sind ein Teil solcher Umwandlung. Außerdem muss das Gehirn vermeiden, dass die Ergebnisse der Simulationen aus dem Gehirn auf die Muskeln des Körpers übergreifen. Derartige Ergebnisse wären kontraproduktiv. Würden wir als Zuschauer eines Boxkampfs unsere Nachbarn schlagen, verhielten wir uns zweifellos höchst unpassend.
    Wie sich zeigt, kommen jedes Mal, wenn wir die Handlungen anderer sehen, noch andere, vermutlich im Frontallappen gelegene Hirnregionen ins Spiel. Diese Areale haben die Aufgabe, das »Tor« zu schließen, das normalerweise die Befehle der Generäle in der Region der prämotorischen Spiegelneuronen an die Soldaten des primär motorischen Kortex übermittelt. Während wir handeln, muss dieses Tor offen sein, doch wenn wir lediglich die Handlungen anderer beobachten, muss es geschlossen sein, um uns daran zu hindern, die Handlungen, die wir nur innerlich simulieren wollen, automatisch auszuführen. Einige Patienten, die unter der sogenannten Echopraxie leiden (von griechisch ēch

    , »Nachhall«, und prãxis »Tun, Verrichtung«), weisen Läsionen des Frontallappens auf

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