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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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gefährlich. Doch wie wir alle wissen, kann die Fähigkeit, Ideen zu entwickeln und sie unter die Leute zu bringen, unser Leben und sogar unsere Gesellschaft grundlegend verändern. Einfache Wörter können Millionen Menschen retten oder töten – wenn sie etwa beschreiben, wie man Penizillin, Schwarzpulver oder – paradoxerweise – eine vollkommene Gesellschaft herstellt.
    Mehr noch, die Sprache befreit uns vom Hier und Jetzt. Nehmen wir beispielsweise die Grünmeerkatzen. Grünmeerkatzen haben einen kleinen, bedeutungshaltigen Wortschatz von ungefähr einem Dutzend Grundlauten und Rufen. Einer der Rufe besagt, dass ein Fressfeind, etwa eine Schlange, in der Nähe ist. Sobald ein Mitglied der Gruppe diesen Schlangen-Ruf ausstößt, flitzen alle Affen auf den nächsten Baum. Ein anderer Ruf warnt vor einem Fressfeind in der Luft, beispielsweise einem Adler. Sobald dieser Adler-Ruf ertönt, verlassen alle Affen in wilder Flucht die Bäume, um unter Büschen Schutz zu suchen. Es ist für die Tiere wichtig, die Rufe auseinanderzuhalten, wollen sie nicht im Bauch einer Schlange enden. Im Vergleich zur menschlichen Stimme haben die Grunzlaute von Grünmeerkatzen eine wichtige Beschränkung. Trotz vieler Jahre Feldforschung hat noch kein Primatologe jemals Grunzlaute einer Grünmeerkatzenmutter aufgezeichnet, die ihrem Kind sagten: »Pass auf! Hüte dich vor dem Hügel dort hinten, denn da habe ich viele Schlangen gesehen.« Alle Rufe, die Grünmeerkatzen produzieren, gelten dem Hier und Jetzt und werden nie zu Sätzen verknüpft. Da Tier- und Menschenaffen über keine Sprache verfügen, müssen sie entweder durch eigene Erfahrung oder durch die direkte Beobachtung anderer lernen. Ein Affe kann einen Artgenossen niemals an der eigenen Erfahrung teilhaben lassen, indem er ihm davon erzählt. Wir können es. Wissen ist ein sprachliches Netz, das Raum und Zeit buchstäblich überschreitet – ursprünglich durch mündliche Überlieferung, dann durch Bücher und heute durch das weltumspannende Internet. Ich kann Shakespeares, Darwins und Newtons Meinungen ebenso zurate ziehen wie die Rezepte meiner verstorbenen Mutter oder die Entdeckungen eines in weiter Ferne arbeitenden Kollegen.
    Eigentlich ist es erstaunlich, dass kein anderes Tier jemals eine echte Sprache entwickelt hat, während es doch für uns Menschen nicht allzu schwer ist, die wunderbare Fähigkeit der Sprache zu erwerben – sicherlich nicht so schwer, wie die Integralrechnung zu lernen oder eine Steuererklärung auszufüllen. Schon mit zwei Jahren können wir Befehle, Aussagen und Fragen äußern. Mit vier sprechen die meisten Menschen in komplexen und grammatikalisch richtigen Sätzen. Und trotz aller Unterschiede der Bildungschancen können 80 Prozent der Weltbevölkerung im Alter von fünfzehn Jahren lesen und schreiben. 28 Offenbar haben wir im Gehirn einige angeborene Schaltkreise, die uns in Sprach-magneten verwandeln, sodass wir bestrebt und fähig sind, diese erstaunliche Fähigkeit zu lernen. Wir scheinen einen natürlichen Sprachinstinkt zu besitzen. 29 Wie wir sehen werden, könnten die Spiegelneuronen eine Voraussetzung für diesen Instinkt sein.
    Faszinierende Belege für die Stärke dieses Instinkts zeigen Untersuchungen an taub geborenen Kindern in Nicaragua. Bis in die siebziger Jahre blieben taub geborene Kinder in Nicaragua meist zu Hause und hatten wenig Kontakt zu anderen Menschen. Doch Ende der siebziger Jahre wurden staatliche Schulen eingerichtet, wo diese Kinder Lippenlesen in spanischer Sprache lernen sollten. Das schlug fehl, weil sich taub geborene Menschen, entgegen einem weit verbreiteten Irrglauben, Lippenlesen nur sehr schwer aneignen können.
    Der eigentliche Erfolg fand außerhalb des Unterrichts statt. Im Zusammensein mit anderen, normal hörenden Kindern entwickelten die gehörlosen Kinder einige »selbst gemachte« Gebärden für ihre Verständigung, Gebärden, wie wir sie oft verwenden, um einfache Dinge in einem fremden Land zu beschreiben – etwa indem wir die Finger um ein imaginäres Glas schließen und an den Mund führen, um den Vorgang des Trinkens darzustellen.
    Im Umgang miteinander begannen die gehörlosen Kinder dann ihren begrenzten Gebärdenwortschatz zu organisieren und allmählich in eine echte Sprache umzuformen – eine nicaraguanische Gebärdensprache. Obwohl diese Kinder nie mit irgendeiner Grammatik in Berührung gekommen waren, entwickelten sie spontan eine eigene Gebärdengrammatik.
    Beispielsweise

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