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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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und scheinen die Fähigkeit eingebüßt zu haben, das Tor während einer Beobachtung zu schließen. Der französische Neurologe François L’Hermitte lieferte eine anschauliche Schilderung dieser Störung. Er legte zwei Brillen auf einen Tisch und forderte seinen Echopraxie-Patienten auf, sich zu setzen. Der Patient trug selber eine Brille, doch als er sah, wie der Neurologe eine der beiden Ersatzbrillen aufsetzte, nahm der Patient automatisch die andere vom Tisch und setzte sie über der eigenen auf. Ohne die inhibitorische Aktivität des Frontallappens war der Patient dem Einfluss, den die Handlungen anderer auf sein eigenes motorisches System hatten, hilflos ausgeliefert.
    Sobald das Gehirn die Umwandlung des Anblicks und Geräuschs von Handlungen in motorische Programme bewältigen und die motorische Ausführung während der Simulation verhindern kann, wird diese zu einer eleganten Methode, um das Verhalten anderer zu deuten. Wenn wir das Spiegelsystem dergestalt als informationsverarbeitenden Mechanismus betrachten, stoßen wir auf eine grundlegende Eigenschaft des Gehirns: Es kann Areale, die ursprünglich für bestimmte Aufgaben vorgesehen waren (eine Tätigkeit zu verrichten), für neue, zusätzliche Funktionen nutzen (diese Tätigkeit wahrzunehmen).
    Ein weiteres wichtiges Beispiel für Simulation ist die Vorstellung. Malen Sie sich aus, was für ein Gefühl es ist, an einem Sommermorgen den Strand entlangzulaufen – bei jedem Schritt platschen Ihre bloßen Füße durch das kühle, seichte Wasser, und der Wind fährt Ihnen durchs Haar. Die allermeisten Menschen haben keine Schwierigkeiten, sich mittels ihres Vorstellungsvermögens lebhafte Bilder und Empfindungen zu vergegenwärtigen. Interessanterweise verstärkt die Vorstellung von Handlungen auch die Aktivität in den prämotorischen Regionen, die an der Ausführung solcher Handlungen beteiligt sind – als liefen Sie wirklich am Strand entlang. Beim Beobachten wie Vorstellen spielt unser Gehirn also mit Hilfe des prämotorischen Kortex eine Handlung mental durch, ohne den Körper tatsächlich zu bewegen. Wir können eine Tätigkeit anderer verstehen und uns sehr genau vorstellen, sie selbst zu verrichten, weil wir dazu denselben Apparat benutzen, den wir zur Ausführung der Handlung verwenden.
    Handlungen vorstellen, beobachten und ihre Geräusche hö ren – alle diese Vorgänge lassen sich als Beispiele für Simula tion verstehen. Sie unterscheiden sich nur im Hinblick auf das, was die Simulation auslöst. Beim Vorstellen wird die Simulation in nerlich ausgelöst durch unseren Willen, uns eine Handlung zu vergegenwärtigen, während die Simulation beim Sehen oder Hören einer Handlung durch einen Reiz in der Außenwelt hervorgerufen wird, etwa den Anblick oder oder das Geräuschbild einer ähnlichen Handlung. 26
    Vor der Entdeckung der Spiegelneuronen hätten die meisten Menschen gedacht, sich eine Situation vorzustellen und sie tatsächlich zu sehen, seien ganz verschiedene Prozesse. Die Ähnlichkeit dieser Prozesse auf neuronaler Ebene ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie die Hirnforschung begriffliche Hindernisse überwinden kann.

KAPITEL FÜNF Evolution der Sprache
    Die Evolution verhält sich wie ein Bastler, der während unvorstellbarer Zeiträume seine Arbeit langsam abändert, […] hier was abschneidet, dort ein Stück ansetzt und jede Gelegenheit nutzt, sie immer neuen Verwendungen zuzuführen […]. Nie schafft sie etwas ganz Neues, sondern arbeitet mit dem, was bereits vorhanden ist – entweder indem sie einem System durch Abwandlung neue Funktionen verleiht oder mehrere Systeme aneinanderreiht, um ein komplexeres zu schaffen . 27 (S. 1161).
    Die blaue Banane mit hundert Beinen
    Stellen Sie sich eine blaue Banane mit hundert Beinen vor. Dieser Satz macht sich eine höchst faszinierende und rätselhafte Fähigkeit des Menschen zunutze. Dank der Sprache können wir anderen ohne große Mühe bestimmte Ideen in den Kopf setzen. Wahrscheinlich hätten Sie nie in Ihrem Leben an eine hundertbeinige blaue Banane gedacht. Und doch hat Sie ein einfacher Satz aus achtundvierzig Buchstaben, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer hundertbeinigen Banane hat, dazu gebracht, sich dieses unwahrscheinliche Gebilde vorzustellen.
    Wir können uns eine solche Sache ausdenken und sie mittels Papier und Tinte in Hunderttausende von Köpfen verpflanzen. Nun ist der Gedanke an eine hundertbeinige Banane zugegebenermaßen wenig gebräuchlich oder

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