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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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segmentierten sie Begriffe aus eigenem Antrieb. Wenn Sie die Bewegung eines Balls beschreiben, der einen Hügel »hinabrollt«, segmentieren Sie diese Bewegung in zwei Bedeutungseinheiten: rollen (Handlung) und hinab (Richtung). Obendrein und im Kontrast dazu können Sie Ihre sprachliche Äußerung noch mit einer nicht-segmentierten, das Hinabrollen bildlich darstellenden Bewegung begleiten, die der visuellen Erscheinung des Ereignisses gleicht.
    2004 berichtete die Psycholinguistin Ann Senghas von der Columbia University in New York über eine Studie, in der sie untersucht hatte, wie gehörlose Kinder ein solches Ereignis in Gebärden übersetzen. Danach vollführten vor allem die jüngsten Teilnehmer der Studie nicht eine einzige abwärts rollende Bewegung. Vielmehr verwendeten sie zwei Gebärden: eine fürs Rollen und eine zweite für die Abwärtsbewegung. Damit verwandelten sie die bildhafte Gebärde, die sie bei sprechenden Menschen hätten beobachten können, in eine grammatikalisch strukturierte Gebärde, die das Abwärtsrollen eines Balls bezeichnete. Angesichts ihrer Unfähigkeit, Spanisch zu lesen oder von den Lippen abzulesen, konnten die gehörlosen Kinder die grammatikalische Segmentierung nicht durch Zuhören erworben haben. Sie entwickelten wirklich eine vollkommen neue Grammatik. Die Ähnlichkeit zwischen ihrer Grammatik und derjenigen praktisch aller bekannten Sprachen geht weit über das Beispiel der Segmentierung hinaus und lässt darauf schließen, dass unsere Gehirne dank ihrer organischen Struktur befähigt sind, bestimmte Formen von Sprache und Grammatik sehr leicht zu lernen. 29, 30
    Die Suche nach dem fehlenden Bindeglied der Sprache
    Seine Besonderheit verdankt der Mensch größtenteils der Sprache. Was wir als angenehm empfinden, ist vielen Evolutionsbiologen ein Dorn im Auge. Um die Evolution eines Merkmals zu verstehen, halten sich Biologen normalerweise an lebende Schwesterarten oder fossile Überreste ausgestorbener Arten, die zeigen, wie sich das Merkmal langsam und stetig entwickelte. Man beginnt mit einer Art, die das Merkmal noch gänzlich vermissen lässt, betrachtet dann eine, die es teilweise aufweist, und sucht sich schließlich eine Art, die es vollständig entwickelt hat. Um zu verstehen, wie wir zu zwei Beinen und zwei Armen gekommen sind, betrachteten Biologen daher die lebenden Tierarten und fanden beispielsweise Fische, die gehen können – etwa die Schlammspringer, kleine tropische Fische, die Trockenperioden überleben, indem sie auf ihren Brustflossen von einem Gezeitentümpel zum nächsten wandern. Außerdem stießen sie auf die fossilen Überreste des Tiktaaliks, einer tetrapodomorphen Art, die viele Merkmale von Fischen mit denen früher vierbeiniger Landtiere verbindet. 31
    Zusammen ergibt das ein einleuchtendes Szenario. Fische sahen sich Trockenperioden ausgesetzt, und diejenigen, die auf ihren Flossen weitere Strecken zurücklegen konnten, überlebten, während die anderen verendeten. Die Selektion der Tiere, die am besten gehen konnten, führte nach Jahrmillionen zunächst zu Tiktaaliks und dann zu Amphibien. Als Nachkommen dieser gehenden Fische haben wir jetzt vier Extremitäten. Die Evolution hat also einen Organismus ohne Beine nicht schlagartig in einen Geparden verwandelt, sondern mit den Flossen herumgebastelt, wie François Jacob so hübsch formuliert, 27 um Wesen zu schaffen, die noch besser zu Fuß sind. Schlammspringer und Tiktaaliks sind Belege für dieses Szenario. Dank der Schimpansen, die fähig sind, aufrecht, wenn auch unbeholfen, auf ihren hinteren Gliedmaßen zu gehen, können wir sogar verstehen, wie sich Vierbeiner langsam zum zweibeinigen Menschen entwickelten. So weit, so gut.
    Doch wenn wir uns der Sprache zuwenden, tappen wir im Dunkeln. Offenbar gibt es keine Zwischenstufen der Sprachevolution. Weder bei lebenden noch bei ausgestorbenen Tieren lassen sich Hinweise auf Arten finden, die ein bisschen gesprochen und ein wenig Grammatik verwendet haben. Wie gezeigt, verknüpfen Grünmeerkatzen ihre Rufe nie zu Sätzen und lassen damit eines der charakteristischsten Merkmale der menschlichen Sprache vermissen. Mehr noch, auf dem Stammbaum der Primaten sind die Grünmeerkatzen ziemlich weit von uns entfernt. Doch Makaken und Menschenaffen, die uns weit näher sind, scheinen noch nicht einmal die Rufe hervorzubringen, die wir von Grünmeerkatzen kennen. Sie lassen kein Anzeichen für einen solchen erworbenen Wortschatz erkennen. Während der

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