Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Die Individuen mit den größten Gehirnen gewannen die Oberhand, weil sie mehr Fertigkeiten entdecken und erwerben konnten. Diese Periode erreichte vor rund zwei Millionen Jahren ihren Höhepunkt, als es unseren Vorfahren gelang, Messer herzustellen, indem sie von Steinen der richtigen Art Splitter der richtigen Größe abschlugen: Damit hatte Homo habilis (»der geschickte Mensch«), wie wir diesen Vorfahren nennen, die Bühne betreten.
Schritt 2: Motorkontrolle des Vokaltrakts. Geräusche und Gebärden waren wichtig für das Lehren. Doch um die Überlebenschancen zu verbessern, musste Homo habilis bessere Koordinationsmöglichkeiten finden, das heißt, die Gruppenjagd effektiver machen. Aus einfachen Vokalisationen wurden Befehle – wer seinen Vokaltrakt besser kontrollierte, hatte mehr Erfolg mit seinen Befehlen, und wer besser verstehen konnte, wurde ein erfolgreicherer Zuhörer.
Hier kamen die Spiegelneuronen ins Spiel. Die Neuronen, die an der Formulierung von Befehlen beteiligt sind, wurden auch aktiviert, wenn jemand die Befehle hörte, was unseren Vorfahren ermöglichte, zu verstehen, was der Sprecher meinte. Anfangs spielten Wörter, die das Geräusch einer Handlung oder eines Tiers nachahmten, vermutlich eine wichtige Rolle. Wir nennen sie onomatopoetisch , »lautmalend«. Noch heute gibt es sie in den modernen Sprachen; denken wir an Verben wie krachen , mampfen , miauen und brüllen oder an Tiernamen wie Krähe , Kuckuck oder Zikade .
Im Laufe der Jahrtausende nahmen unsere Gehirne ständig an Volumen zu, während unsere Kehle immer stärker ihre moderne Gestalt annahm. Diese Veränderung lässt sich heute noch ganz ähnlich an einem Baby beobachten. Neugeborene können gleichzeitig schlucken und atmen, aber nur wenige Laute erzeugen. Später sind sie zu komplexen Vokalisationen in der Lage – allerdings nur um den Preis, dass sie sich jetzt verschlucken können.
Schritt 3: Symbole. Einige unserer Vorfahren kamen auf den Gedanken, dass die verwendeten Laute nicht unbedingt den Dingen ähneln mussten, für die sie verwendet wurden. Gewiss, man konnte einen Löwen durch Brüllen bezeichnen, aber wie wollte man etwas benennen, das überhaupt kein Geräusch machte, zum Beispiel einen Stock? Stellen wir uns also einen Vorfahren vor, der auf einen Stock zeigte und dann, wenn alle den Stock anblickten, etwas mehr oder weniger Zufälliges sagte wie »Speer«. Anfangs verstand niemand, was er meinte, doch nach wiederholtem Hören verknüpfte die Gruppe das Wort mit dem Stock. Dank dieses Tricks gab es für die Bedeutung von Wörtern keine Einschränkung mehr.
Schritt 4: Hierarchische Strukturen. Nach einiger Zeit gingen unseren Vorfahren die Einzellaute zur Bezeichnung verschiedener Objekte aus. Alle hatten schon oft Bewegungsprogramme wie Greifen, Schälen, Zerquetschen und Essen zu komplexen Ritualen der Futterzubereitung oder anderer Verrichtungen verknüpft. Plötzlich wendeten unsere Vorfahren diese Strategie auf Laute an und bildeten neue Wörter, indem sie mehrere Laute – Konsonanten und Vokale – erst zu Silben und dann zu Wörtern zusammenfügten.
Später gewannen unsere Vorfahren eine weitere Erkenntnis: Wenn sie etwas taten, gab es jemanden, der diese Handlung ausführte, und etwas, das Gegenstand dieser Handlung war. Sie begannen die an Handlungen erworbene Kombinationsfertigkeit auf ihre Wörter anzuwenden und sie, statt sie einzeln zu nutzen, miteinander zu verknüpfen. Dabei übernahmen sie die Reihenfolge ihrer Handlungen – ein Merkmal, das sich heute noch an der Wortstellung moderner Sprachen beobachten lässt. Obwohl die Bestandteile eines Satzes – Subjekt, Verb und Objekt – theoretisch sechs verschiedene Reihenfolgen haben könnten, steht in der weit überwiegenden Mehrheit der Sprachen das Subjekt an erster Stelle, gefolgt von Objekt und Verb – so wie unsere Handlungen mit einer Absicht in uns (dem Subjekt) beginnen, bevor wir unseren Körper bewegen, um auf ein Objekt einzuwirken. Diese sprachlichen Fertigkeiten setzten unsere Vorfahren weit besser instand, ihre Handlungsweisen zu koordinieren und weiterzugeben. Rund zweihunderttausend Jahre vor Christi Geburt war der modernde Mensch, Homo sapiens sapiens , geboren.
Den Kern dieses hypothetischen Szenarios bildet im Wesentlichen eine einzige Idee. Die Sprache ist mit dem motorischen System und den darin befindlichen Spiegelneuronen verknüpft. Mit Hilfe der Sprache lehren wir Fertigkeiten, und Fertigkeiten sind im
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