Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
sondern auch durch die Neigung unseres Gehirns, Handlungen und Emotionen spontan miteinander zu verknüpfen, ohne dass dazu bewusste Anstrengungen vonnöten wären. Unser Gehirn ist von Natur aus befähigt, uns in höhere soziale und empathische Tiere zu verwandeln.
KAPITEL SIEBEN Sinneswahrnehmungen
Um acht Uhr, als die ersten Gäste eintreffen, ist das Abendessen längst noch nicht fertig. Nach einer raschen Begrüßungsrunde wenden Valeria und ich uns wieder dem Kochen zu. »Danke! Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagt Valeria höflich. »Würdest du sie bitte in eine Vase stellen?«, fügt sie hinzu und gibt mir den Strauß Tulpen, während sie gleichzeitig nach einem fünfzig Zentimeter langen, rasiermesserscharfen japanischen Küchenmesser greift, um die Zwiebeln zu schneiden. Als ich sie frage, wo die Vase sein könnte, beginnt sie zerstreut, die Zwiebeln zu hacken, während ihre Augen die Regale im Wohnzimmer absuchen. Ich blicke sie an und sehe zu meinem Schrecken, wie die Klinge in das Fleisch ihres Fingers statt in die Zwiebel fährt. Ich weiß nicht mehr, wer zuerst »Au!« gesagt hat, sie oder ich. Jedenfalls schießt fast augenblicklich ein roter Strahl aus der Wunde. Sie presst ihren Finger zusammen – und ich den meinen. Hastig reiße ich etwas Küchenpapier ab und wickel es um die Wunde.
Die meisten von uns haben schon ähnliche Situationen erlebt – Vorfälle, bei denen uns der körperliche Schmerz anderer physisches Unbehagen verursachte. Was wir erleben, wenn wir Schmerz sehen, geht über bloßes Verständnis hinaus. Wir spüren den Schmerz buchstäblich: so heftig und so genau verortet, als hätten wir uns selbst in den Finger geschnitten. Bislang haben wir betrachtet, wie wir die Handlungen und viszeralen Emotionen anderer Menschen miterleben, uns aber noch nicht mit den Sinneswahrnehmungen beschäftigt. Wenn wir sehen, wie jemand mit einer Feder an der Fußsohle gekitzelt wird, kann es passieren, dass wir dieses Kitzeln spüren, und der Anblick eines Menschen, der in einen Kaktus greift, kann bei uns Schmerzempfinden auslösen. Diese taktilen Empfindungen unterscheiden sich von Emotionen dadurch, dass wir sie an einer bestimmten Stelle unseres Körpers spüren. Mir tat mein Finger weh, als ich sah, wie Valeria sich in den ihren schnitt. Somatosensorische Empfindungen – von griechisch soma (»Körper«) und lateinisch sensus (»Wahrnehmung«) – sind Perzepte (Wahrnehmungserlebnisse), die normalerweise aus dem Empfinden unseres eigenen Körpers erwachsen. Wir spüren eine Berührung, wenn uns jemand auf die Schulter klopft, aber auch Schmerz, wenn wir uns schneiden, wir empfinden Kälte und Wärme, wenn wir einen Eiswürfel beziehungsweise einen Heizkörper berühren, oder einen Juckreiz, wenn uns eine Mücke sticht, wir spüren unser Körperinneres, wenn sich unser Magen zusammenkrampft, unsere Körperhaltung, wenn wir aufwachen und wissen, wie unsere Gliedmaßen und unser Körper angeordnet sind, ohne hinsehen zu müssen. Doch im ersten Beispiel sehen wir lediglich, dass der Körper eines anderen Menschen einem bestimmten Reiz ausgesetzt ist, und doch fühlen wir, was der andere fühlt, ohne dass er uns irgendeinen Hinweis geben müsste. Mein Schmerz wurde durch den Anblick von Valerias Schnittverletzung, nicht von ihrem Gesichtsausdruck verursacht.
Inzwischen vermuten Sie natürlich, dass wir die Sinneswahrnehmungen anderer mitempfinden, indem wir die Teile unseres Gehirns aktivieren, die für diese Wahrnehmungen verantwortlich sind. Im vorliegenden Kapitel möchte ich untersuchen, ob diese Vermutung zutrifft. Wir werden die Frage des Mitempfindens über den sozialen Bereich hinaus auf Probleme ausdehnen wie die Frage, warum das schrille Geräusch von Metall auf Beton schmerzhaft ist, wenn wir wissen, dass das Metall zu unserem nagelneuen Auto gehört und der Beton zur Wand unserer Garage. Schließlich werde ich mich noch mit der hochinteressanten Frage auseinandersetzen, warum wir traditionellerweise unsere Männer und nicht unsere Frauen in den Krieg schicken.
Eine Berührung zu sehen, ist buchstäblich berührend
Aus naheliegenden Gründen empfiehlt es sich nicht, einen Test durchzuführen, um herauszufinden, ob es ein Spiegelsystem für den Anblick von Menschen gibt, die sich in den Finger schneiden; dafür würden sich wohl kaum Freiwillige finden lassen. Stattdessen beschlossen mein Kollege Vittorio Gallese in Parma, mein Freund Bruno in Marseille und ich zu
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