Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
diesen Zustand selbst erleben, egal, ob es sich um eine Handlung, eine Emotion oder eine Sinneswahrnehmung handelt. Zwar werden jeweils andere Hirnregionen aktiviert – motorische Areale für Handlungen, emotionale Areale für Gefühle und somatosensorische Areale für Sinnesempfindungen –, doch das Prinzip bleibt das gleiche.
Warum uns die Kratzer in unserem Auto Schmerzen bereiten
Wenn wir merken, dass unser Auto einen Kratzer bekommt, stöhnen wir manchmal auf, als würden wir uns in das Auto einfühlen. Wenn wir ein Schaltgetriebe durch falsche Bedienung aufheulen lassen, verzieht sich unser Gesicht, als würden wir seinen Schmerz fühlen. Dabei gilt unsere Empathie doch normalerweise Menschen und keinen unbelebten Gegenständen. Wenn wir sehen, wie ein Messer einen Finger abschneidet, empfinden wir Schmerz. Ganz anders, wenn wir dasselbe Messer dabei beobachten, wie es in einen Laib Brot schneidet. Wie würde das Spiegelsystem für Berührung in diesen Fällen reagieren? Würde unser somatosensorischer Kortex fühlen, was Gegenstände erfahren?
Valeria beschloss, diese Frage zu untersuchen. Wir zeichneten neue Filme auf: In dem einen war zu sehen, wie meine Beine berührt wurden, in den anderen, wie sich die Bürste in 25 Zentimetern Entfernung von meinen Beinen bewegte. Dann legten wir Aktenordner und Rollen mit Papierhandtüchern dorthin, wo vorher meine Beine gewesen waren. Wir filmten genau die gleichen Bewegungen: Einmal berührte die Bürste die Gegenstände, das andere Mal hielt sie 25 Zentimeter Abstand. Diese Filme zeigten wir neuen Versuchsteilnehmern, während wir ihre Gehirnaktivität maßen. Das Ergebnis: Wenn die Teilnehmer sahen, dass die Gegenstände berührt wurden, war die Aktivierung von SII ebenso stark wie bei dem Film, in dem meine Beine berührt wurden! Unser gemeinsamer Schaltkreis für Berührung scheint also den Anblick von Berührung – unabhängig davon, was berührt wird – in das taktile Erlebnis einer Berührung umzuwandeln.
Wie in Kapitel vier gezeigt, ist das Spiegelsystem für Handlungen während der Beobachtung von Robotern genauso aktiv wie während der von Menschen. Bei Handlungen und bei Berührungen machen die gemeinsamen Schaltkreise also keinen Unterschied zwischen Menschen, Robotern und Gegenständen. Das Spiegelsystem übersetzt einfach das, was es sieht, in das Gefühl, das wir hätten, würden wir ähnliche Handlungen ausführen oder ähnliche Berührungen erleben.
Wenn wir beobachten, wie jemand eine Handlung ausführt, ähnelt die Spiegelaktivität in unserem prämotorischen und parietalen Kortex zum einen derjenigen, die auftritt, wenn wir ähnliche Handlungen ausführen, und zum anderen der Aktivität im prämotorischen Kortex der beobachteten Person. In diesem Fall spiegelt die prämotorische und parietale Aktivität diejenige der beobachteten Person getreulich wider. Genauso verhält es sich, wenn wir die Berührungserlebnisse anderer Menschen beobachten: Die somatosensorische Aktivität des Beobachters ist ein genaues Spiegelbild der Aktivität des anderen.
Wenn ein Mensch einen Affen beobachtet oder ein Affe einen Menschen, wird das Ganze etwas komplizierter. Menschen wie Affen haben prämotorische und somatosensorische Kortizes, und die Gehirnregionen, die beim Affen aktiviert werden, wenn er sieht, wie ein Mensch nach etwas greift, ähneln mehr oder weniger denen, die bei dem beobachteten Menschen feuern, doch die genaue Organsation dieser Hirnregionen unterscheidet sich, was zu kleinen Unstimmigkeiten führt. Wie gesehen, entstehen Unterschiede auch, wenn Versuchsteilnehmer, die ohne Hände und Arme geboren wurden, die Handaktivitäten anderer Individuen beobachten. Sie aktivieren Fußrepräsentationen, die sich in gewisser Weise von den Handrepräsentationen der beobachteten Personen unterscheiden. Wenn Menschen die Tätigkeiten von Robotern beobachten, kommt es zu massiven Unterschieden. Die prämotorische Aktivität beim menschlichen Beobachter weist keinerlei Ähnlichkeit mit der elektronischen Aktivität in der Zentraleinheit der Roboter auf. Genauso wenig gibt es die geringste Übereinstimmung zwischen der Aktivität in SII und dem Zustand der Aktenordner, die in unseren Filmen berührt werden.
Aus historischen Gründen werden wir den Ausdruck »Spiegeln« oder »Simulation« auch weiterhin verwenden, um zu beschreiben, was gemeinsame Schaltkreise leisten; tatsächlich aber spiegelt dieses System nicht eigentlich den neuronalen Zustand der
Weitere Kostenlose Bücher