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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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untersuchen, ob bei Versuchsteilnehmern, die beobachten, wie jemand anders berührt wird, die gleichen Hirnareale wie bei einer Berührung des eigenen Körpers aktiviert werden. Während wir die Gehirnaktivität unserer Teilnehmer in einem MRT aufzeichneten, ließen wir die Teilnehmer Filme sehen, in denen meine Beine mit einer Bürste bearbeitet wurden, und ähnliche Filme, in denen die Bürste in einem Abstand von 25 Zentimetern über meine Beine bewegt wurde. Dann massierten wir die Beine dieser Teilnehmer mit einem Waschhandschuh, den wir anstelle der unangenehmen Bürstenborsten verwendeten. Die Daten ließen darauf schließen, dass die Teilnehmer, wenn sie im Scanner berührt wurden, vier Gehirnareale aktivierten, die bekanntermaßen für unseren Tastsinn zuständig sind: je eines ganz oben in jeder Hemisphäre und je eines in der Sylvischen Fissur beider Hirnhälften – der waagerechten Furche, die den Parietallappen vom temporalen Kortex trennt. Die oberen Regionen entsprechen dem sogenannten primär somatosensorischen Kortex ( SI – S für somatosensorisch und I für römisch Eins, vgl. Tabelle »Das soziale Gehirn«). Die Berührung des linken Beins aktiviert den rechten SI , die des rechten den linken SI . Dass die Aktivierungen auf den gegenüberliegenden Gehirnseiten stattfinden, liegt daran, dass die Nervenbahnen auf ihrem Weg vom Körper zum Gehirn die Seite wechseln. Eine ähnliche Kreuzung weist das motorische System auf: Wenn die Nervenbahnen vom Gehirn zu den Muskeln ziehen, tauschen sie die Seite, sodass Menschen mit einem Schlaganfall in der linken Gehirnhälfte die Kontrolle über ihre rechte Körperhälfte verlieren.
    Das zweite Aktivierungsareal, in der Sylvischen Furche beider Hemisphären gelegen, entspricht dem sogenannten sekundär somatosensorischen Kortex oder SII . Anders als SI reagieren die beiden SII -Regionen auf Berührungen beider Körperseiten. Anatomische Studien an Affen lassen darauf schließen, dass SII seine Information vorwiegend von SI erhält; SII scheint also Informationen vom SI beider Hemisphären zu erhalten. SII ist in der Verarbeitungshierarchie taktiler Reize eine Ebene höher angesiedelt als SI .
    Welche Unterschiede zeigten also die Reaktionen der Versuchsteilnehmer, wenn sie einerseits Filme sahen, in denen die Bürste meine Beine berührte, und andererseits Filme, in denen die Bürste die gleichen Bewegungen in 25 Zentimetern Entfernung von meinen Beinen ausführte? Die Filme enthielten das gleiche Maß an Bewegung, daher fanden wir auch kaum Unterschiede zwischen den Reaktionen in den visuellen Hirnregionen, die den Anblick dieser Bewegung repräsentierten. Allerdings erwarteten wir von den Arealen, die direkt analysieren, ob Berührungen stattfinden oder nicht, dass sie stärker auf die Berührungsfilme reagierten. Natürlich hofften wir außerdem, dass die Gehirnregionen, die für unsere eigenen Berührungserlebnisse zuständig sind, während dieser Vorgänge aktiv sein würden. Der zuverlässigste Unterschied zwischen den beiden Filmkategorien zeigte sich in SII , der aktiviert wurde, wenn die Teilnehmer berührt wurden. Ähnlich wie die Forschungsgruppe in Parma bei der Entdeckung der Spiegelneuronen mochten wir kaum an unsere Ergebnisse glauben, denn dieses Areal wird seit mehr als dreißig Jahren untersucht. In allen Einzelheiten ist beschrieben worden, wie die Region an Berührungserlebnissen des eigenen Körpers beteiligt ist, und doch wird in keiner einzigen Studie erwähnt, dass Teile dieses Areals auch aktiviert werden, wenn wir sehen, wie jemand anders berührt wird. Die Überzeugung, dass dieses Gebiet somatosensorisch sei, hat die Forscher für die visuellen Eigenschaften der Region blind gemacht.
    Es handelt sich um ein höchst bedeutsames Resultat: Wenn wir die Handlungen anderer in denselben Regionen erkennen, in denen wir unsere eigenen Handlungen programmieren, und wenn wir die Emotionen anderer in den emotionalen Regionen unseres Gehirns verstehen, ergibt sich daraus der Schluss, dass Spiegeln nicht eine besondere Eigenschaft einzelner Hirnregionen ist, sondern ein ziemlich allgemeines Prinzip der Hirnfunktionen. Zwar haben wir spezialisierte Hirnareale, um die Welt zu sehen, nämlich die Sehrinde, doch wenn es darum geht, zu fühlen, was in anderen Menschen vor sich geht, verlassen wir uns nicht auf eine einzelne spezifische und spezialisierte Hirnregion. Stattdessen scheinen wir jene Gehirnregionen zu rekrutieren, mit deren Hilfe wir

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