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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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beobachteten Person, sondern unterzieht das, was wir se hen, einer Übersetzung und Umdeutung in das, was wir in die ser Situation täten oder fühlten. Wenn wir die Beobachtung von Menschen verarbeiten, funktioniert diese Übersetzung als neuronaler Spiegel von unterschiedlicher Zuverlässigkeit, je nach der Ähnlichkeit zwischen Beobachter und Beobachtetem. Geht es um grundsätzlich verschiedene Phänomene wie Roboter oder Rollen mit Papierhandtüchern, ähnelt die Übersetzung eher einem Gerät, das die Erfahrung des Beobachters auf die Dinge projiziert, die er sieht. Unsere gemeinsamen Schaltkreise tragen sicherlich nicht zu der Einsicht bei, dass andere Objekte und Organismen möglicherweise anders sind als wir. Diese Schaltkreise führen zu der impliziten Annahme, dass wir alle das Gleiche erleben, oder anders, sie vermitteln uns den Eindruck, alle Dinge um uns her würden fühlen wie wir. Infolge der gemeinsamen Schaltkreise sind wir intuitiv geneigt, die Welt anthropomorph oder sogar »egomorph« zu betrachten.
    Allerdings wissen wir noch nicht genau, warum wir so unterschiedlich fühlen, je nachdem, ob das Messer in einen Laib Brot oder eine menschliche Hand schneidet. Die Spiegelsysteme für Sinneswahrnehmungen erzeugen dabei im somatosensorischen Kortex einen neuronalen Zustand, der dem des Berührtwerdens in mancherlei Hinsicht ähnelt. Unser eigenes Berührungserleben wird aber nicht ausschließlich von der Aktivität in den somatosensorischen Kortizes bestimmt. Ein warmes, seidiges Tierfell, das um unsere Beine streicht, aktiviert SII . Wenn wir nachschauen, was uns berührt hat, und sehen, dass es unsere Katze war, empfinden wir die Wahrnehmung als angenehm. Stellen wir hingegen fest, dass es eine streunende Ratte war, die gerade aus dem Abflussrohr gekrochen ist, erscheint uns die gleiche somatosensorische Aktivität ganz anders. Ähnliche Aktivitäten in somatosensorischen Arealen können also, je nach den Aktivitäten in anderen Hirnregionen, die uns mitteilen, was uns berührt oder was wir berühren, zu höchst unterschiedlichen Gefühlen führen. Dass wir bei Gegenständen weniger Empathie empfinden als bei Menschen, scheint also nicht an einem Mangel von Spiegelung in somatosensorischen Arealen zu liegen, sondern an einer aktiven Neubewertung des Spiegelns. Präfrontale Hirnregionen spielen wahrscheinlich eine entscheidende Rolle bei dieser Einschätzung.
    Gemeinsame Schaltkreise dürften wesentlich dazu beitragen, dass wir spüren, was anderen Menschen und Gegenständen zustößt, doch das Ergebnis dieser Simulation verbindet sich mit unserem Weltwissen und wird auf dieser Grundlage unterschiedlich interpretiert. Babys reagieren manchmal überraschend bekümmert, wenn sie sehen, dass Gegenstände kaputtgehen, was möglicherweise anzeigt, dass ihre gemeinsamen Schaltkreise bereits auf den Anblick von Berührungen reagieren, dass ihre kognitive Interpretation das Geschehen aber noch nicht als harmlos einstufen kann.
    Auf den ersten Blick mag es seltsam erscheinen, dass das Gehirn so extrem anthropozentrisch ist. Anderen Organismen menschliche Zustände zuzuweisen, könnte ein schwerwiegender Fehler sein. Ist es aber wahrscheinlich nicht. Im Zuge der Evolution hat das Gehirn die Fähigkeit erworben, die Tauglichkeit eines Organismus zu maximieren. Um ein Kaninchen zu erlegen, aktiviert der Jäger seine gemeinsamen Schaltkreise und stellt dem Tier nach, als besäße es das gleiche Gehirn wie er selbst, obwohl sich das Kaninchenhirn in vielerlei Hinsicht vom menschlichen unterscheidet. Trotzdem ermöglichen dem Menschen seine gemeinsamen Schaltkreise die zutreffende Voraussage, dass das Kaninchen vor ihm davonlaufen wird, sodass er es mit einer geeigneten Strategie in eine Falle scheuchen kann. Wir können überleben, weil wir das Kaninchen kriegen. Die philosophische Erkenntnis, dass die geistige Verfassung eines Kaninchens ganz anders sein mag als unsere, mag zwar interessant sein, macht uns aber nicht satt.
    Wenn die Annahme, dass ein Kaninchen ähnliche Gefühle hat wie Sie selbst, dazu führt, dass Sie des Kaninchens schneller habhaft werden, sollten Sie daran festhalten, egal, ob die Vermutung stimmt oder nicht. Genauso gilt: Wenn Sie die Annahme, dass Ihr Auto bei Berührungen etwas spürt, vor Zusammenstößen schützt, sollten Sie an ihr festhalten. Nur unsere eigenen Handlungen und Empfindungen kennen wir wirklich. Wenn wir mit ihnen alles spiegeln, ist das keine Arroganz, sondern die

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