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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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Penfield große Mengen Gehirngewebes bei Kleinkindern entfernte, entwickelten diese Kinder, wie Hebb feststellte, bemerkenswert normale geistige Fähigkeiten. Wurden dem erwachsenen Gehirn entsprechende Mengen entnommen, war die Wirkung desaströs – ein Ergebnis, das ihn sehr verwirrte. In der Folge versuchte er herauszufinden, warum sich die Entfernung gleicher Hirnareale auf verschiedenen Altersstufen so unterschiedlich auswirkte, und begann zu vermuten, dass unsere geistigen Fähigkeiten nicht unwiderruflich mit einer bestimmten Hirnregion verknüpft sind. Wahrscheinlich veranlassen stattdessen bestimmte Kindheitserfahrungen bestimmte Hirnareale, sich bestimmter Funktionen anzunehmen. Wird das Gehirngewebe entfernt, bevor diese Lernprozesse stattfinden, können sie an anderer Stelle stattfinden. Entfernt man das Gehirngewebe nach dem Lernen, werden die geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt. In gewisser Weise ähnelt das Gehirn einer Fußballmannschaft. Eine Gruppe von Kindern – keines von ihnen mit besonderem Talent – meldet sich an. Der Trainer bereitet nun jeden Spieler auf eine bestimmte Rolle vor: Angriff, Verteidigung und so fort. Scheidet ein Spieler sehr früh in der Trainingsphase aus, entwickelt sich die Mannschaft ohne besondere Mängel in Angriff oder Verteidigung weiter. Doch fällt derselbe Spieler in einer viel späteren Phase aus, ist die besondere Funktion, für die er trainiert wurde, gestört. Im Laufe der Jahre wurde Hebb klar, dass die entscheidende Frage lautet, wie sich Erfahrung auf die Funktion eines Hirnareals auswirkt. Um diese Frage zu beantworten, musste er genau herausfinden, was beim Lernen im Gehirn stattfindet.
    Im Zuge einer stürmischen Entwicklung der Forschung wurden damals zahlreiche wichtige Merkmale des Gehirns entdeckt. Der spanische Neurophysiologe Santiago Ramon y Cajal hatte 1906 den Nobelpreis für den Nachweis erhalten, dass das Gehirn nicht aus einem einzigen Netz aller miteinander verbundenen Neuronen besteht, sondern aus getrennten Neuronen, die Informationen über Synapsen austauschen. In 1932 bekam Edgar Adrian einen Nobelpreis, weil er mit den ersten Einzelzellableitungen belegt hatte, dass die elektrische Aktivität von Neuronen, das sogenannte Aktionspotenzial, auf dem Alles-oder-nichts-Prinzip beruht und dass die Häufigkeit dieser Entladungen die Intensität eines Reizes repräsentieren. Weiter entwickelte er die Hypothese, dass die Synapsen unterschiedliche Wirksamkeit entfalten könnten, soll heißen, dass die Aktivität in Neuron 1, das mit Neuron 2 durch eine Anzahl von Synapsen verbunden ist, dieses nachhaltig beeinflussen kann, wenn die Synapsen stark sind, dass aber bei schwachen Synapsen der Effekt gering bleibt. Außerdem glaubte er, dass die Synapsenzahl im Gehirn viel größer sei als die Anzahl der Neuronen und dass eigentlich jedes Neuron mit jedem anderen verknüpft sein müsse.
    Adrians Entwurf der Gehirnphysiologie wurde zur Grundlage für Hebbs Theorie. Parallel dazu war es den Behavioristen, namentlich dem russischen Physiologen Iwan Pawlow und dem amerikanischen Psychologen Burrhus Skinner, gelungen, die Psychologie in eine strenge Wissenschaft zu verwandeln, indem sie unsere Lernfähigkeit in zwei eingehend untersuchte Komponenten zerlegten. Die erste war die klassische Konditionierung, das heißt, unsere Fähigkeit, zwei Reize miteinander zu assoziieren, und die zweite die operante Konditionierung: Wir lernen durch negative und positive Verstärkung, bestimmte Reize mit bestimmten Handlungen zu verknüpfen. Ein berühmtes Beispiel für klassische Konditionierung ist Pawlows Hund, der lernte, die Klingel, die vor seinen Mahlzeiten erklang, mit der Mahlzeit selbst zu verknüpfen. Ein Beispiel für operante Konditionierung: Sie lernen, Ihren Regenschirm über Ihrem Kopf zu öffnen (Verhalten), wenn es regnet (Reiz), weil Sie dadurch verhindern, dass der Regen Sie durchnässt und deprimiert (negative Verstärkung, das heißt, Wegnahme eines aversiven – unangenehmen – Reizes). Angesichts solcher Fortschritte auf dem Gebiet der Physiologie und Psychologie war die Zeit reif für eine Überbrückung der Lücke zwischen dem wachsenden Wissen über die Gehirnarchitektur und den von den Behavioristen beschriebenen Lerngesetzen.
    Nach reiflichem Nachdenken kam Hebb auf einen verblüffend einfachen und doch überzeugenden Einfall, den er 1949 in seinem Buch The Organization of Behavior darlegte. 71 Seine Hypothese: Man müsse sich diese

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